Kollektives Moratorium

Koalitionen, große zumal, haben die Eigenschaft, dass sie von Kompromissen geprägt werden. Sie sind nicht dazu da, um den Beteiligten Spaß zu machen oder Parteiprogramme durchzusetzen.

Sie gehören aber zu einer repräsentativen Demokratie. Die Bürger haben den Bundestag so gewählt, wie sie ihn gewählt haben. Und die Parteien haben nun mal den Job, das Bestmögliche daraus zu machen. Dieser Aufgabe werden sich, die Wette gilt, bei allem Frust auch die SPD-Mitglieder nicht verschließen können.
Das lustvolle Einprügeln auf die entstehende große Koalition, das die vergangenen Wochen gekennzeichnet hat, war angesichts der zähen Verhandlungen zwar verständlich, berechtigt war es nicht. Die Wähler haben weder einer konservativ-marktliberalen Position noch einem rot-grünen Projekt zur Mehrheit verholfen. Sie ziehen offensichtlich das pragmatisch-unaufgeregte Gewurstel Marke Merkel einer wie auch immer gearteten ideologischen Linie vor. Das muss einem nicht gefallen, aber deshalb kann man es doch nicht ignorieren.
Die Frage ist nun, was bei dem mehrwöchigen Geschacher her-ausgekommen ist. Und da gibt es immerhin ein paar Punkte, die Bewegung ins Land bringen. Dazu gehört der Einstieg in den Mindestlohn, zwar abgemildert durch Übergangsfristen, aber letztlich irreversibel. Dazu gehört die - wenn auch zaghafte - Lockerung des antiquierten deutschen Staatsbürgerschaftsrechts. Dazu gehören die Investitionen für die Bildung und die Entlastung der Kommunen an einem wichtigen Punkt wie der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Das scheint, jedenfalls bei guter Konjunktur, auch realistisch finanzierbar.
Dass im Gegenzug auch manche Kröte zu schlucken ist, liegt in der Natur der Sache. Die Herdprämie bleibt bestehen, die Gleichstellung homosexueller Menschen stagniert, die PKW-Maut mit dem zweifelhaften Nutzen ist beschlossen - wenn auch mit vielen Fragezeichen, was die Umsetzung angeht. Energiewende, Klima, Umwelt: Da fehlen wichtige Akzente.
Aber das alles ist nicht spielentscheidend. Das Defizit dieser großen Koalition liegt nicht in strittigen Einzelfragen, es liegt in dem gemeinsamen Unwillen beider Beteiligter, die existenziellen Zukunftsfragen anzugehen. Die Signale in Sachen Rente und Gesundheitsvorsorge sind fatal. Aufweichung der Rente mit 67, Mütterrente, Lebensleistungsrente: Lauter Zusatzlasten für künftige Generationen - Lasten, deren Finanzierung völlig in den Sternen steht.
Im Gesundheitswesen hat die SPD Leistungseinschnitte verhindert, parallel aber die CDU dafür gesorgt, dass die Arbeitgeber nicht belastet werden. Wer das alles zahlen soll? Das steht nicht im Koalitionsvertrag. Das System steuert auf den demografischen Kollaps zu, und die Koalitionäre machen Witzchen bei der Pressekonferenz.
Das muss sich ändern, wenn die große Koalition mehr sein soll als ein kollektives Moratorium mit lukrativer Postenversorgung. Elementare Entwicklungen kann man - siehe Schröders Agenda 2010 - aus der Regierungsarbeit heraus auf die Schiene setzen, ohne dass sie je in einem Koalitionsvertrag gestanden hätten.
d.lintz@volksfreund.de

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