Kommentar zu: Bürgerversicherung Ungesunde Denkblockaden

Berlin · Ein verbeamteter Lehrer erzählte kürzlich, er sei mit Schulterschmerzen in eine große orthopädische Privatpraxis gegangen, die alles an Geräten hat, was nötig ist. Der Arzt sprach drei Minuten mit ihm, vermutete einen Bandscheibenvorfall und verordnete unter anderem eine Untersuchung im Computertomografen. Sehr teuer. Es war dann doch nur eine Verspannung. Geholfen haben dem Mann einfache Yoga-Übungen.

Kommentar: Ein zentraler Konfliktpunkt in den Groko-Gesprächen: Die Bürgerversicherung der SPD.
Foto: TV/Schramm, Johannes

Ein anderer Fall: Bei einem Frühpensionär wurden Hautveränderungen durch Sonnenlicht festgestellt, die eine Vorstufe des Weißen Hautkrebses sein können. Viele Millionen Menschen haben das. Der Arzt empfahl sofort eine „;photodynamische Therapie“. Die ist nicht zwingend und kostet viel. Die Privatversicherung zahlt das, die gesetzliche nicht. Der Bruder des Mannes, behindert und Geringverdiener, hat exakt das Gleiche. Er muss mit dem Risiko leben.

Das System der privaten Krankenversicherung führt zu Diskriminierungen der gesetzlich Versicherten. Lange Wartezeiten auf Facharzttermine, schlechtere Behandlungen und höheren Zusatzkosten. Das fühlt sich nicht nur an wie Zwei-Klassen-Medizin, das ist Zwei-Klassen-Medizin. Dabei geht es nicht einmal um Arm oder Reich. Dass man sich über eine Zusatzversicherung Zusatzleistungen kauft, etwa Chefarzt-Betreuung und Einzelzimmer, das könnte man noch verstehen. Und das könnte auch ein zukünftiger Markt für die Privatkassen sein. Hier geht es um die Beamten. Sie machen den Großteil der privat Versicherten aus.

Die Kombination mit der Beihilfe, die anders als bei gesetzlich Versicherten seitens des Arbeitgebers nicht 50 sondern 70 oder 80 Prozent der Kosten abdeckt, ist eine zusätzliche Privilegierung der Staatsdiener, neben den üppigen Pensionen, für die sie auch schon nichts bezahlen müssen. Dieses Privileg zahlt über die Steuern perverserweise dann auch noch die Mehrheit der gesetzlich Versicherten. Das Geschrei des Beamtenbundes – angeblich ist die Funktionsfähigkeit des Staatswesens in Gefahr, wenn die private Krankenversicherung abgeschafft wird – ist grotesk überzogen.

Außerdem sorgen die zwei unterschiedlichen Honorarsysteme auch für zwei Klassen von Ärzten. Gedeckelte Kosten hier, überhöhte Abrechnungssätze da. Haus- und Kinderärzte kommen gerade so über die Runden, vor allem auf dem Land. Ärzte, die sich auf Privatpatienten spezialisieren und viele davon haben, verdienen sich eine goldene Nase. Die Lautstärke der Proteste vor allem der Fachärzte-Lobby entspricht der Größe ihres Vorteils. Völlig neben der Sache ist das Argument von Union und FDP, es gehe um den „Wettbewerb der Kassen“. Zwischen PKV und GKV gibt es keinen Wettbewerb, weil es Durchlässe nur in eine Richtung gibt. Richtung Privatkassen.

Die von der SPD vorgeschlagene Bürgerversicherung mag nicht die goldene Lösung sein. Das Konzept enthält viele Detailprobleme, auch hätte ein abrupter Systemwechsel unerwünschte Risiken und Nebenwirkungen. Aber was man von CDU/CSU mindestens erwarten muss bei den heute beginnenden Koalitionsgesprächen, ist eine Anerkennung der Probleme des zweigeteilten Gesundheitsversicherungssystems an sich. Und dann auch die Bereitschaft, an einer Reform zu arbeiten. In einem so vermachteten Gelände wäre die Berufung einer unabhängigen Experten-Kommission ein sachgerechter Kompromiss, analog der Hartz-Kommission für die Arbeitsmarktreformen. Sie müsste freilich einen Reformauftrag haben.

Bisher hat die Union jedoch eine totale Denkblockade über das Thema verhängt. Das ist unter ihrem Niveau und kann auch nicht das Niveau einer neuen großen Koalition sein. Mögen sich andere als Klientelpartei von Ärzten oder Beamten empfehlen, eine Volkspartei, eine christliche zumal, darf nur die Klientelpartei eines effektiven und zugleich gerechten Gesundheitssystems sein, dem jeder Kranke gleich viel wert ist. Und jeder Arzt auch.

nachrichten.red@volksfreund.de

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