Kommentar zum neuen EU-Kommissionspräsidenten: Europa braucht einen Versöhner

Brüssel · Ein Europäer von gestern kann die EU nicht fit für die Welt von morgen machen: So lautet die Hauptkritik am neuen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (59). Das ist - mit Verlaub - Blödsinn. Ein Kommentar unserer Brüsseler Korrespondentin Anja Ingenrieth.

Denn nirgendwo ist Erfahrung wichtiger für Erfolg als auf dem europäischen Parkett. Juncker war 18 Jahre Premier Luxemburgs, hat als Euro-Gruppenchef während der Schuldenkrise eine Schlüsselrolle innegehabt. Kaum einer beherrscht wie er die Kunst des Kompromisses - ohne den in Brüssel nichts vorangeht.
Als erster Kommissionschef überhaupt stellte er sich als Spitzenkandidat dem Votum der Wähler - erhielt nach dem Sieg die Rückendeckung von Europaparlament sowie Staats- und Regierungschefs. Das gibt ihm mehr demokratische Legitimation als seine Vorgänger je hatten, um eine ehrgeizige Reformagenda durchzusetzen.
Diese formale Stärke muss er nun politisch nutzen. Er hat dafür gar keine schlechten Voraussetzungen: Juncker muss keine falsche Rücksicht nehmen, weil er nach einer Amtszeit im Rentenalter ist - und nicht auf seine Wiederwahl schielen muss. Er ist zudem ein geübter Brückenbauer.
Als Regierungschef eines kleinen EU-Landes vermittelte er "als ehrlicher Makler" oft im Streit der Großen, was ihm viel Vertrauen einbrachte. Politisch könnte man ihn als Christdemokraten mit viel sozialem Herzblut beschreiben. Er versprach gestern ein 300 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm für Wachstum und Jobs - will die Euro-Stabilitätsregeln flexibler handhaben, aber nicht ändern. Wenn einer das nebulöse Konzept der wachstumsfreundlichen Konsolidierung mit Leben erfüllen kann, dann vermutlich der christsoziale Juncker.
Europa braucht dringend einen Versöhner, der die durch die Schuldenkrise entstandenen Risse zwischen Sparverfechtern im Norden und Solidaritätsrufern im Süden kitten kann. Wenn Juncker klug agiert, hat er das Potenzial dazu. Selbst den Briten, die ihn vehement ablehnen, steht er programmatisch in einigen Kernpunkten gar nicht so fern.
Er will erreichen, dass Europa sich aus Alltags-Klein-Klein wie dem Glühbirnen-Bann heraushält. Und er will weitere Integrationsschritte in mehreren Geschwindigkeiten vornehmen - London muss also nicht mitmachen.
Das bedeutet: Juncker träumt nicht von den Vereinigten Staaten von Europa, weil er weiß, dass die Bürger das nicht wollen. Er will die Gemeinschaftswährung mit einer Wirtschaftsregierung und einem Budget für die Euro-Zone stabilisieren - nicht mehr und nicht weniger. Juncker ist kein Träumer. Er ist Realist mit einem Blick fürs Machbare.
nachrichten.red@volksfreund.de

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