Leben, um zu arbeiten

Diesen Witz kennen wohl die meisten: In anderen Nationen arbeiten die Menschen, um zu leben - in Deutschland leben die Menschen, um zu arbeiten. Die jüngste Studie über die im Euro-Raum geleisteten Überstunden bedient jenes Klischee jedenfalls auf vortreffliche Weise.

Nur, was ist daran eigentlich so schlimm? Sicher, in vielen gut dotierten Jobs werden Überstunden schlicht erwartet. Sie sind in der Vergütung gewissermaßen schon eingepreist. Wenn Maloche allerdings zum Dauerstress ausartet, wenn Unternehmer ohnehin schon dürftig bezahlten Beschäftigten die Mehrarbeit weder vergüten noch in Freizeit ausgleichen, dann läuft tatsächlich eine Menge schief. Auch die insgesamt rückläufige Tarifbindung in den Betrieben mag Überstunden begünstigen, die einzig den Gewinn der Arbeitgeber steigern, während die Beschäftigten dafür mit ihrer Gesundheit bezahlen. Trotzdem wäre es falsch, Überstunden prinzipiell zu verdammen. Denn der Missbrauch ist nur ein Teil der Wahrheit. Anders als etwa in Großbritannien, wo das Bruttosozialprodukt vornehmlich über Dienstleistungen und den Finanzsektor erwirtschaftet wird, geht die Wirtschaftskraft in Deutschland zu einem großen Teil auf das produzierende Gewerbe zurück. Aus der Herstellung konkurrenzfähiger Autos oder Werkzeugmaschinen zum Beispiel. Gerade in diesem Bereich müssen aber auch häufig Auftragsspitzen abgearbeitet werden. Eben erst vermeldete das Statistische Bundesamt wieder einen neun Exportrekord. Ohne Überstunden wäre der sicher nicht möglich gewesen. Doch es geht nicht nur schlechthin um Rekorde. Die große Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 hat Deutschland nicht nur deshalb vergleichsweise schnell weggesteckt, weil der Arbeitsmarkt anders als in anderen Staaten weniger gesetzlich zementiert war. Der Erfolg resultierte vor allem aus den flexiblen Arbeitszeitkonten in vielen deutschen Unternehmen. Damit wurden angehäufte Überstunden "abgefeiert" und Entlassungen verhindert. Im Ernstfall können Überstunden also auch eine arbeitsplatzssichernde Maßnahme sein. Und Hand aufs Herz: Es gibt auch nicht wenige Beschäftigte, denen der Mehrverdienst durch Überstunden oder die gewonnene freie Zeit an anderen Tagen sehr gelegen kommen. Und die deshalb wenig über Arbeitszeitverkürzungen begeistert wären, wie sie politisch immer wieder gefordert werden. Übrigens ist das Überstundenaufkommen auch keineswegs exorbitant gestiegen. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen ist es seit den 1990er Jahren im Gegenteil weitgehend konstant geblieben. Nicht die Überstunden sind am Ende das Problem, sondern, wie mit ihnen umgegangen wird. nachrichten.red@volksfreund.de

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