Licht und Schatten

Wer die neuen Bundesländer durch das Autofenster betrachtet, dem muss die Dauerdiskussion um eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West befremdlich erscheinen. Die Altstadt von Görlitz oder Bautzen ist mittlerweile genauso top wie die von Bamberg oder Schwäbisch Hall.

Und wer über die Autobahn fährt und in einem normalen Hotel absteigt, wird sich im Osten womöglich komfortabler aufgehoben fühlen. Kein Wunder. Denn was da zwischen Ostsee und Thüringer Wald erstrahlt, ist erst in den letzten 19 Jahren entstanden. Die Fassaden sind in Schuss. Doch dahinter bleibt viel zu tun.

Eine nüchterne Bestandsaufnahme tut not: Gemessen an den ökonomischen Grunddaten hinkt der Osten dem Westen weiter hinterher. Das Wachstum ist deutlich niedriger und die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch. Aber es gibt Hoffnung: Wenn heute in den neuen Ländern eine halbe Million Menschen weniger zum Kundenkreis der Arbeitsagenturen zählt als noch vor drei Jahren, hat das auch mit erfolgreichen Industrie-Ansiedlungen und einer gezielten Förderpolitik zu tun. Zu den Paradebeispielen zählt die Solarwirtschaft. Wer weiß schon, dass weltweit jede sechste produzierte Solarzelle aus den neuen Bundesländern stammt? In Zukunftsbranchen braucht der Osten keinen Nachhilfeunterricht.

Solche Erfolge stehen allerdings nicht für die gesamte ostdeutsche Wirklichkeit. Es gibt Boom-Regionen und strukturschwache Gebiete. Das Problem ist, dass letztere deutlich überwiegen. Weder die Regierung Helmut Kohls noch die Gerhard Schröders und Angela Merkels haben dafür ein wirksames Gegenrezept gefunden. Und bei nüchterner Betrachtung dürfte sich daran auch in Zukunft kaum etwas ändern. Wer jünger ist, zieht der Arbeit hinterher. Wer das nicht kann oder will, bleibt in Hartz-IV-Hochburgen zurück. Nicht zuletzt aus solchen Tatsachen speist sich bei vielen Neubundesbürgern das Gefühl, Deutscher zweiter Klasse zu sein. Selbst ein Mindestlohn ist hier ein stumpfes Schwert. Denn wo er bislang existiert, wird ebenfalls zwischen Neu- und Altbundesbürgern unterschieden. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass die Stimmung im Osten mitunter schlechter als die Lage ist. Ostdeutsche Rentner sollten wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass ihre gesetzlichen Altersbezüge sowohl bei Frauen als auch bei Männern deutlich über denen in den alten Ländern liegen. Grund zur Sorge müssen allerdings künftige Rentnergenerationen haben, wenn sie längere Zeit arbeitslos waren.

Seit dem Mauerfall hat jede Bundesregierung Berichte zum Stand der deutschen Einheit abgeliefert. Es lässt sich festhalten, dass die neuen Länder dank eigener Anstrengungen und durch massive Finanzhilfen aus dem Westen weit vorangekommen sind. Fast zwei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit gibt es Licht und Schatten. Eine Betrachtung nur durch die Autoscheibe wird der Entwicklung genauso wenig gerecht wie notorische Schwarzseherei.

nachrichten.red@volksfreund.de

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