Mehr als ein Wimpernschlag

Was bleibt von der Mauer? Schnell weg mit ihr, sagten die Berliner, als das Volk sie am 9. November 1989 gestürmt hatte, und ließen es zu, dass ihre Teile kleingehackt an Touristen verkauft wurden. Der Zeitpunkt naht, 2017, da die Mauer so viele Jahre fort ist, wie sie die Stadt und ganz Deutschland geteilt hat.

Ist sie also nur ein Wimpernschlag der Geschichte?
Wenn es gutgeht mit der Erinnerungsarbeit, dann bleibt von der Mauer - und vom Staat DDR, dessen letzte tragende Säule sie war - allerdings doch etwas mehr als der löchrig gewordene Beton auf den verbliebenen Vorführstrecken für die Erinnerungsfotos. Dann ist sie Anschauungsmaterial für die Erkenntnis, dass jedes auf der Durchsetzung einer Ideologie basierende und jedes das Individuum missachtende System, nenne es sich Kommunismus oder Staatsreligion, zur Unfreiheit führt. Dass es diese Unfreiheit in der einen oder anderen Form, früher oder später, härter oder weniger hart, exekutieren wird. Als eiserner Vorhang, wie in Deutschland und Europa geschehen, oder als eiserne Faust des Militär- und Polizeistaates, wie es in China oder im Iran derzeit geschieht. Es gibt keine guten Ziele im Schlechten.
Anerkennung der Realitäten - so lautete ein politischer Slogan des Westens, vor allem der Sozialdemokraten, als die Mauer noch stand. Es war der ehrbare Versuch, mit der Teilung umzugehen, zum Wohle der Betroffenen und des Weltfriedens. Aber zu viele der Akteure haben damals zu oft vergessen, dass es moralische Grundsätze gibt, die wichtiger sind als staatliche Verträge und Kontakte. Am 9. November 1989 haben sie lernen müssen, dass es immer noch etwas jenseits der angeblich so alternativlosen Realpolitik gibt: die Kraft der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, auch die des Zusammenhaltes eines Volkes, hier des deutschen.
Täglich muss die Außenpolitik der demokratischen Staaten auch heute noch diesen Balanceakt bewältigen. Und nicht immer hat man den Eindruck, dass sie gelernt hat. Beispiel Tibet oder Taiwan und das Kuschen vor China, Beispiel Panzer-Lieferungen nach Saudi-Arabien. Aber auch der Zaun, der Israel und Palästina trennt, kann, so nachvollziehbar die Gründe für ihn sein mögen, nie und nimmer das Ende der Geschichte sein.
Die Mauer stellt noch heute die Frage nach Schuld und Verantwortung jener, die sie errichtet und 28 Jahre lang geschützt oder schöngeredet haben. Sie stellt aber auch an jeden anderen, der nicht in der DDR eingesperrt war, die Frage, wie er selbst sich verhalten hätte, wenn er hinter sie gezwungen gewesen wäre und Wege hätte finden müssen, um sein einziges Leben anständig zu leben. Es gibt darauf keine einfachen Antworten, schon gar keine kollektiven. Die Mauer ist in jedem Fall, wie so manches andere Bauwerk in Deutschland und Europa, ein weiterer trauriger Anlass, um in Ost und West gemeinsam zu sagen: Nie wieder. Wenigstens dafür lohnt es sich, einige Meter dauerhaft stehen zu lassen.
nachrichten.red@volksfreund.de

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