Meinung Der alte Kitt klebt nicht mehr: Merkel geht auf Putin zu

Wächst wieder zusammen, was zusammengehört? Europa und Russland? Die Ereignisse dieser Tage, auch Merkels Treffen mit Putin am Freitag in Sotschi, deuten darauf hin. Vor ihr war der Wirtschaftsminister in Russland, davor der Außenminister. Es ist gemessen an der zurückliegenden Eiszeit eine regelrechte diplomatische Offensive. Und sie zeitigt erste Ergebnisse. Etwa die Aufnahme neuer Gespräche über die Ost-Ukraine.

Meinung Werner Kolhoff Angela Merkel Wladimir Putin
Foto: TV/Schramm, Johannes

Eine Wiederannäherung an Russland entspricht dem Wunsch großer Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft. Doch Vorsicht. Die Gründe für die Krise, die Annexion der Krim, die Aggression in der Ost-Ukraine und die militärischen Muskelspiele sind nicht verschwunden. Kurz vor Angela Merkel hat Putin den syrischen Diktator Assad empfangen, den man einen Menschenschlächter nennen darf. Niemand sollte sich Illusionen über den Charakter des neuen russischen Zaren machen.

Gleichwohl muss versucht werden, mit ihm pragmatisch umzugehen. Denn zum einen wird er noch mindestens weitere sechs Jahre amtieren. Zum anderen braucht man ihn zur Lösung zentraler Probleme, von Syrien bis Iran. Auf der anderen Seite braucht auch er den Kontakt mit Europa, um wirtschaftlich voranzukommen. Es gibt also Ansatzpunkte. Das historische Vorbild: der Umgang des Westens mit der DDR. Auch da gab es große Streitfragen, die Staatsbürgerschaft, der Status Berlins. Und dennoch hat man Verträge gemacht. Man hat die Konflikte ausgeklammert, ohne sie zu vertuschen. Dahin muss es auch zwischen Europa und Russland kommen. Ein Beschleuniger dafür ist Donald Trump. Die Aufkündigung des Iran-Abkommens hat zweierlei Wirkungen. Zum einen zwingt sie Europa in eine Allianz mit Russland und China, um das Abkommen noch zu retten. Zum zweiten trifft sie die transatlantische Allianz im Kern. Denn Trump ist nicht nur einseitig vorgegangen, er droht den Europäern sogar. Das ist mehr als eine normale Meinungsverschiedenheit, wie Merkel weiszumachen versucht. Der alte Kitt – hier der freie Westen, dort der böse Ostblock – klebt nicht mehr.

Für Trump ist Europa nur noch ein Konkurrent wie jeder andere. Es gibt keinen Grund, das nicht gleichwertig zu beantworten. Das bedeutet konkret, dass in der Frage der Ostseepipeline die USA nur eine Stimme unter vielen sind. Und zwar nicht die entscheidende. Hier muss der Kompromiss zwischen der EU, der Ukraine und Russland gefunden werden.

Sitzen wir also zwischen Teufel und Beelzebub? Ja, zunehmend. Nichts können Deutschland und Europa jetzt tun, außer die Lage zu begreifen und sie anzunehmen. Das heißt: Zusammenhalten, selbst stärker werden und möglichst eigenständig agieren. In Sotschi hat Angela Merkel dazu einen Anfang gemacht.


nachrichten.red@volksfreund.de

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