Quo vadis Europa?

Es ist wie im echten Leben. Nach dem Schock über den Verlust eines langjährigen Wegbegleiters setzt die Trauerphase ein.

Wut und das Gefühl, es nicht wahrhaben zu wollen, waren in den ersten Tagen nach der Entscheidung der Briten für den Brexit in Berlin, Brüssel und den anderen Hauptstädten zu beobachten. Doch die Politik kann sich nicht lange mit Trauerarbeit aufhalten.

Langsam wird bewusst, wie groß der Schaden ist. Es zeichnet sich zudem ab, dass es nur ein frommer Wunsch ist, noch auf einen Exit vom Brexit zu hoffen. Es war kein Betriebsunfall der Demokratie, Europa muss jetzt damit leben.

Neben den wirtschaftlichen Folgen, für die die Vernichtung von Kapital an den Börsen ein Indikator ist, sind die psychologischen Auswirkungen gravierend: Erstmals bröckelt Europa. Das weltweit einzigartige Projekt der Zusammenarbeit und Einigung ehemals verfeindeter Völker stagniert nicht nur, wie früher schon einmal. Gerade ist der Rückwärtsgang drin.

Die Frage käme jetzt noch zu früh: Hat die EU ihre Lektion aus dem Brexit gelernt? Der Gipfel, zu dem sich die 27 Staats- und Regierungschefs der Rest-EU trafen, konnte noch kein überzeugendes Konzept liefern, wie der Kontinent wieder aus dieser Krise herauskommt. Wie auch? Die Mitgliedsländer sind sich nicht einig. Die einen, etwa in der SPD, wollen mehr Europa. Andere, einige osteuropäische Regierungschefs, wollen weniger Europa. Die Südeuropäer wollen wohl mehr soziale Umverteilung. Nun muss die Zeit zum Nachdenken genutzt werden - bis zum Herbst, wenn in Bratislava das nächste Treffen in der Sache stattfindet. Aber es hilft nichts: Europa ist in der größten Krise seiner Geschichte. Die EU ist in akuter Gefahr.

Alle Beteiligten sind nun gut beraten, sich bewusst zu werden, was auf dem Spiel steht. Es gilt, sich am Riemen zu reißen. Es fängt schon damit an, wie über Europa geredet wird.

Jüngst hat sich etwa ein nicht unbedeutender Bundestagsabgeordneter aus Bayern zu Wort gemeldet, der als Konsequenz aus dem Brexit nun eine höhere Bedeutung für die deutsche und die französische Sprache auf europäischer Ebene einfordert. Ja, geht es noch?

Dass in Brüssel zunehmend Englisch gesprochen wird, beruht nicht auf einer Verschwörung gegen Deutschland und Frankreich. Es ist vielmehr die logische Folge daraus, dass mit den diversen Erweiterungsrunden Politiker und Kommissionsbeamte am Tisch sitzen, die eben nicht Deutsch oder Französisch sprechen. Sondern etwa Litauisch oder Slowakisch als Muttersprache haben. Und wenn alle 27 miteinander reden wollen, landet man da automatisch bei Englisch.

Auch die nationalen Regierungen sollten etwas ändern. In der Griechenland- und in der Flüchtlingskrise hat die EU wegen der nationalen Egoismen den Eindruck eines Hühnerhaufens gemacht. Mehr Geschlossenheit ist Gebot der Stunde.

Die EU-Kommission ist nicht die Super-Behörde, als die sie häufig gescholten wird. Dennoch macht auch sie Fehler. Als Hüterin der Verträge müsste sie zum Beispiel konsequenter sein, wenn es darum geht, die Haushaltsdisziplin in den Mitgliedsländern zu überwachen. Nächste Woche gibt es dazu Gelegenheit: Da muss sie entscheiden, wie es mit den chronischen Haushaltssündern Portugal und Spanien weitergeht.

Auch jeder Bürger ist gefragt. Es gilt, im Kleinen, in der Diskussion im Bekanntenkreis Europa zu verteidigen. Zugegeben, die Strukturen der EU sind etwas unübersichtlich. Doch der aufgeklärte Wähler sollte sich schon die Mühe machen, mehr Durchblick zu bekommen. Wer näher hinschaut, erkennt: Die EU hat kein Demokratiedefizit. Das Europa-Parlament ist machtvoll, die Abgeordneten haben bei der Auswahl der Kommissare ein Wort mitzureden.
Geldverschwendung? Der Haushalt der EU hat nur etwa halb so viele Milliarden wie der Bundesetat.

EU-Bürokraten? Die Kommission hat weniger Mitarbeiter als die Stadtverwaltung von München. Es ist höchste Zeit, dass das Europa-Bashing aufhört. nachrichten.red@volksfreund.de

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