Richter auf Bewährung

Auch wenn es paradox erscheint: Die Verschiebung des Auftakts ist die erste vernünftige Entscheidung, die das Oberlandesgericht München im NSU-Verfahren bislang getroffen hat. Nachdem man den Karren nach allen Regeln der Kunst in den Dreck gefahren hat, ist es sinnvoller, ihn in Ruhe herauszuziehen und wieder flott zu machen, als in Hektik daran rumzubasteln.

Dafür geht es in diesem Verfahren um zu viel.
Leider hatten die Münchner Richter bislang keinerlei Indiz dafür geliefert, dass sie Letzteres verstanden haben. Das Problem ist nicht, dass sie einen gravierenden Fehler gemacht haben, als sie die Presseplätze ohne jede Sensibilität - und dann offenbar auch noch mit schiefem Informationsfluss - so vergaben, als würde ein Brötchenklau verhandelt. Nein, es geht darum, dass sie die Chance nicht genutzt haben, ihren Fehler wieder auszubügeln. Es geht darum, dass die späte Verschiebung mit all ihren Härten für die Prozessbeteiligten, vor allem die Angehörigen, nicht nötig gewesen wäre, wenn auch nur ein Minimum an Einsicht geherrscht hätte statt ein Maximum an richterlicher Selbstgerechtigkeit.
Es war nicht zuletzt das Auftreten des Gerichts nach außen, das für so viele Verletzungen, aber auch für die Härte der Kritik verantwortlich war. Nachfrager mussten sich abkanzeln lassen, juristische Einwände wurden abgebügelt, Ratschläge als Zumutung zurückgewiesen. Ein Gericht kann die respektvolle Zurückhaltung, die ihm zusteht, auch verspielen. Vor allem, wenn erst das Bundesverfassungsgericht kommen muss, um ihm beizubiegen, was dem gesunden Menschenverstand vom ersten Tag an klar war. Juristen, von Berufs wegen die Hüter des Rechts, tun sich schwer mit Demut. Aber etwas in der Art stünde dem Gericht in München jetzt ganz gut.
Diskutieren sollte man aber auch über die tiefere Schicht des aktuellen Problems: über die irrige Auffassung, diejenigen Richter seien gute Richter, die das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie handeln, ignorieren. Es ist Justitia, die die Blinden-Binde trägt, nicht der Kammervorsitzende. Der soll bitte die Augen offen halten für das, was um ihn herum passiert. Nicht, um sich davon das Urteil diktieren zu lassen. Sondern weil er im Namen des Volkes richtet und deshalb wissen muss, was die Menschen denken - auch und vor allem, wenn er am Ende zu anderen Ergebnissen kommt.
Das ohnehin belastete NSU-Verfahren wird nach dem Debakel zu Beginn jetzt noch schwieriger. Das Gericht wird sich Vertrauen erst wieder erarbeiten müssen. Es richtet quasi auf Bewährung. Eine heikle Basis für diesen Prozess.
d.lintz@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort