Rumpelstilzchen

Was für eine Aufregung. Ein bisher nur einem kleinen Fernsehpublikum bekannter deutscher Moderator und Satiriker schreibt ein obszönes Schmähgedicht auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan - und schon wird tatsächlich eine Satire draus.

Eine Realsatire. Die Kanzlerin selbst verkündete gestern, dass die Bundesregierung strafrechtliche Ermittlungen gegen Autor Jan Böhmermann erlaubt.
Dass ein solch verstaubter Spezialparagraf aus dem 19. Jahrhundert, gemacht ausschließlich für gekränkte ausländische Staatsoberhäupter, auf Erdogans Antrag überhaupt wieder aus der Schublade hervorgekramt werden musste, spricht Bände über die Vorstellungs- und Lebenswelt des türkischen Präsidenten.
Immerhin soll der Paragraf jetzt bald abgeschafft werden, weil er nicht mehr in eine moderne Demokratie passt. Aber Erdogan kann ihn noch beanspruchen.
Die Bundesregierung hätte sich dem türkischen Verlangen auch verweigern können. Und man mag trefflich darüber streiten, ob sie nicht doch vor Ankara in die Knie gegangen ist, weil sie die Türkei zur Lösung der Flüchtlingsfrage braucht.
Dennoch ist es gut, den Streitfall, der ein diplomatisches Beben nach sich zog, endlich aus der Politik zu verbannen. Hierzulande urteilt eine unabhängige Justiz über Recht oder Unrecht.
Stellen wir mal die akademische Betrachtung hintan, wonach Böhmermann sich selbst - taktisch geschickt - vom absurden Inhalt des Gedichts durch die Wahl des Konjunktivs distanziert. Das dürfte tatsächlich nur juristisch von Bedeutung sein.
Was beim mittlerweile immer größer werdenden Publikum (und auch bei Erdogan) hängen bleibt, sind Zoten, die kein mittelmäßig begabter Mensch für bare Münze nehmen oder auf sich beziehen würde. Wenn deutsche Spitzenpolitiker immer mal wieder in Abbildungen von ausländischen Medien oder Demonstranten mit Hitlerbärtchen oder Wehrmachtsuniform ,,dekoriert" werden - zuletzt traf es Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Wolfgang Schäuble auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise -, dann regt sich in Deutschland kaum jemand darüber auf. Geschweige denn würden sich die Adressaten solcher Wutgebärden selbst die Blöße geben, politisch oder juristisch intervenieren zu wollen.
Daher ist die Geschichte Erdogan/Böhmermann eine ganz andere.
Ein Staatsoberhaupt lässt sich von einem kleinen ausländischen Comedian provozieren und stilisiert danach sein persönliches Beleidigtsein zur Staatsaffäre.
Eine Geschichte, die um die halbe Welt geht und ein grelleres Licht auf Erdogans autokratischen Politikstil wirft, als es die Meldungen über Verhaftungen von unliebsamen Journalisten in der Türkei zu tun vermögen.
Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich. Aber sollten die Folgen des Schmähgedichts als Teil der Inszenierung vorausberechnet gewesen sein, dann ist Jan Böhmermann tatsächlich ein Kunst-Stück gelungen - dank Erdogans freundlicher Unterstützung.
Und wenn nicht, kann man ein solches Kalkül im Nachgang immer noch in die Handlung hineininterpretieren.
Nicht das Gedicht macht Erdogan zur Spottfigur, sondern seine rumpelstilzchenhafte Reaktion.
Und der Moderator, da sind sich die Experten einig, dürfte selbst bei einer Verurteilung keinen allzu hohen Preis für sein Experiment bezahlen. Im Gegenteil - plötzlich ist er berühmt.
i.funk@volksfreund.de

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