Sternstunden des Gewissens

Eine Frau und ein Mann zeugen ein Kind, im Idealfall sogar mehrere, und verbringen ihr Leben eingebettet in dieser Familie. Das ist das Leitbild.

Doch kennt das wirkliche Leben davon viele Abweichungen. Leider nur nach unten. Vom Verlassenwerden bis zur Beziehungsunfähigkeit, von der Kinderlosigkeit bis zur Veranlagung für Erbkrankheiten, von der Drogensucht bis zur schweren Krankheit.
Es stellen sich im Leben schwierige, manchmal sogar entsetzliche Entscheidungsfragen. Wer sie gesetzlich regeln will, der muss über ein stabiles Fundament von Grundwerten verfügen. Und er darf doch die Wirklichkeit nicht vergessen.
Die Religion taugt als Wertebasis nur begrenzt. Oft setzt sie Maßstäbe, die zu groß sind für den Menschen. Und oft weckt sie den Verdacht, sie strebe bloß die Herrschaft über die Köpfe und die Körper (der Frauen) an. Erinnert sei nur an die Schärfe der Auseinandersetzung um den Paragrafen 218 in den 1970er Jahren. "Mein Bauch gehört mir" versus "Abtreibung ist Mord".
Beim Schwangerschaftsabbruch ist mit der Fristenregelung am Ende aber eine Lösung gefunden worden, die mehr ist als nur ein Kompromiss. Sie ist auch die beispielhafte Befriedung geistig-moralischer Gegensätze in einer Gesellschaft, die sich eben nicht nur aus dem christlichen Weltbild speist, sondern auch aus der Aufklärung und dem Humanismus. Deutschland hat seitdem fast alle ethischen Konfliktfragen sehr kultiviert diskutiert und beantwortet. Sei es der Embryonenschutz, die Stammzellenforschung oder die Patientenverfügung.
Auch der gestrige Bundestagsbeschluss, die genetische Untersuchung eines Embryos vor der künstlichen Befruchtung in engen Grenzen zuzulassen, knüpft an diese Tradition an.
Es hat in keinem Fall religiösen oder moralischen Rigorismus gegeben, der, wie etwa in Irland, verzweifelte Frauen auf die Tische der Kurpfuscher treibt, oder wie in den USA Abtreibungsärzte um ihre Leben fürchten lässt. Aber auch keine säkulare Beliebigkeit.
Verdienste daran haben natürlich die hiesigen Kirchen, die diese Kompromisse letztlich mitgetragen haben, obwohl ihre tiefe Überzeugung eine andere ist.
Verdienste haben ebenso alle Parteien, allen voran die sich christlich nennenden Parteien. Dass die Abstimmung im Bundestag zur Präimplantationsdiagnostik gestern wie schon in den anderen Fällen frei war, also nach dem Gewissen und ohne jeden Fraktionszwang, hat einen solchen Weg möglich gemacht. Wenn es je Sternstunden im Parlament gab, dann waren es diese.

nachrichten.red@volksfreund.de

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