Ticket ohne Rückfahrkarte

Es liegt im Auge des Betrachters, ob man die neue Atomkraft-Linie als historischen Einschnitt betrachtet oder als pragmatische Tagespolitik. Wer die Dinge nüchtern sieht, wird sagen, dass die Republik nur zu einer Beschlusslage zurückgekehrt ist, die bis vor einem Jahr ohnehin galt.

Wer zur Euphorie neigt, wird den Umstand feiern, dass sich Volkes Meinung gegen einen riesigen Interessenapparat im Inland und gegenüber der weltweiten Atom-Phalanx durchgesetzt hat.
Die Atomkraftskepsis der Deutschen ist nicht das Resultat einer irrationalen Fukushima-Panik. Sie zieht sich seit Jahrzehnten durch alle einschlägigen Umfragen - das Japan-Desaster hat lediglich den Druck im Kessel erhöht. Die CDU hat keinen Fehler begangen, als sie der Stimmung der Menschen folgte und ihre Energiewende vollzog. Ihr Sündenfall war im vergangenen Jahr die überflüssige Abkehr vom einstigen Atom-Kompromiss. Diese Eselei wird den Steuerzahler noch teuer zu stehen kommen, denn die Energiekonzerne werden sich für den gescheiterten Versuch, ihnen gigantische Extraprofite zuzuschanzen, nicht mit Stillhalten revanchieren. Sie werden alles daransetzen, entgangene Gewinne auf juristischem Weg wieder einzutreiben.
Umso mehr verdient die Konsequenz der Ausstiegsbefürworter in der Union Respekt. Auch wenn das Szenario letztlich ein Kompromiss ist: Merkel, Röttgen und Seehofer haben nicht nur die Atomlobby überrannt, sondern auch den Wirtschaftsflügel ihrer eigenen Partei. Sie spielen mit hohem Risiko, denn das Ticket, das sie gelöst haben, ist keine Rückfahrkarte. Das Land steigt aus der Atomwirtschaft aus. Und dass gerade Seehofer die Blockade in der Endlagerfrage aufgehoben hat, spricht für die Ernsthaftigkeit des Richtungswechsels.
Die Tour ins Energiewende-Land wird keine Vergnügungsreise. Es wird Versuche geben, mit Preistreiberei und Lieferengpässen Druck auszuüben und den Konsens zu kippen. Und die Bürger werden merken, dass auch alternative Energien lästige Nebenwirkungen haben können. Da wäre es wichtig, wenn möglichst alle Parteien an einem Strang ziehen, auch und gerade die Grünen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die internationale Perspektive. Denn das Abschalten der deutschen AKW hilft denen wenig, die im 50-Kilometer-Umkreis eines französischen Schrott-Meilers leben.
Auch wenn es paradox klingt: Langfristig gesehen ist der jetzige Ausstiegsbeschluss der Schlüssel für eine neue wirtschaftliche Blüte in Deutschland. Denn Atomkraft wird weltweit ein Auslaufmodell werden. Führt man überall hohe Sicherheitsstandards ein und zwingt die Betreiber, sich gegen den Ernstfall zu versichern, wird sie zu teuer. Tut man es nicht, sind die nächsten Katastrophen nur eine Frage der Zeit.
Wenn die anderen dann über kurz oder lang doch aussteigen, werden die Deutschen die Weltmeister in den alternativen Technologien sein. Und das wird sich auszahlen.

d.litnz @volksfreund.de

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