Was uns unterscheidet

Der deutsche Außenminister lässt derzeit in einer Veranstaltungsreihe diskutieren, ob sich das Versagen der Diplomatie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges heute wiederholen könnte. Seine vorläufige Antwort und die der Bundeskanzlerin am Mittwoch im Bundestag lautet: Nein, denn es gibt eine neue Gesprächskultur der Regierungen in Europa, die dergleichen verhindert.

In der Tat hat die heutige Politikergeneration dieses Kontinents aus der blutigen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts gelernt. Die Nationen bestehen fort, ordnen sich aber supranationalen Organisationen wie der Uno, der EU oder der OECD ein und unter. Es gibt ein Krisenmanagement, das sich gerade in der Ukraine-Krise bewährt hat, und einen internationalen Strafgerichtshof. Freilich, der Rückfall Putins in eine rücksichtslose nationalchauvinistische Strategie, auch das Aufkommen europafeindlicher Parteien in vielen Staaten zeigt, dass sich das schnell wieder ändern kann.
Gelernt haben auch die Menschen selbst. Undenkbar, dass sich hierzulande noch Massen mobilisieren lassen und mit Hurra auf Nachbarvölker losgehen wie 1914. Das Alltagsleben in Europa ist stark vernetzt, vom Auslandsstudium über die Musik, die Esskultur und das Kino bis zum Urlaub. Die Grenzen sind offen. Man genießt endlich die Vorteile aus der Vielfalt dieses Kontinents, die es so nirgends sonst gibt. Aber auch hier die Einschränkung: Die tumbe Ablehnung anderer Kulturen, auch europäischer, lässt sich in Situationen sozialer Probleme schnell wieder mobilisieren. Es gibt Hooligans und Nazis, die auf Fremdenjagd gehen, auch in Deutschland, auch gegen Italiener und Spanier. Es gibt wegen der Euro-Krise Schmähungen gegen die Schuldenländer. Es gab vor nicht allzu langer Zeit den Völkerkrieg auf dem Balkan. Man spürt, dass Fremdenfeindlichkeit und Hurra-Patriotismus nicht für alle Zeiten gebannt sind.
Noch am widerstandsfähigsten sind die wirtschaftlichen Vernetzungen; nicht ohne Grund verlangt zum Beispiel in der Ukraine-Krise die Wirtschaft am stärksten nach friedlichen Lösungen, übrigens auch in Russland selbst. Denn die Rückkehr zu Konfrontation und nationaler Konkurrenz kostet bares Geld.
Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg liegt Europa, von oben betrachtet, wie ein großer, munterer Schulhof da, auf dem friedlich gespielt und nur am Rande manchmal gerangelt wird. Doch das Bild kann sich rasch ändern, und diese Änderung wird schleichend beginnen, ehe sie nicht mehr zu stoppen ist.
Erst kommt die Missgunst, dann die Abgrenzung, dann die Konfrontation. Man muss deshalb auf allen Ebenen weiter an den Lehren der zwei Weltkriege arbeiten. Die Politik muss ihre internationalen Kontakte weiter vertiefen. Das heißt nach wie vor: mehr Europa statt weniger. Die Bevölkerung muss den persönlichen Austausch fortsetzen, sich weiter interessieren für die anderen Kulturen. Und die Wirtschaft muss weiter an gemeinsamen Projekten arbeiten, schon weil sie nur so im globalen Wettbewerb mit Asien und den USA bestehen kann. Denn der Frieden in Europa ist ein dünner Firnis, der leichter aufreißt, als man denkt. Vor 100 Jahren, als alles auch sehr friedlich schien, reichten zwei Schüsse in Sarajewo.

nachrichten.red@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort