Forum Denken Sie jetzt bitte bitte bitte nicht an einen rosa Elefanten!

Die Medien und das Virus: Warum plötzlich alle hyperventilieren.

 Peter Reinhart

Peter Reinhart

Foto: TV/Klaus Kimmling

Und wenn uns der Himmel auf den Kopf fällt?

Ja, wenn! Dann könnte … dann hätte … dann wäre …

Es ist zum Verzweifeln. Auf einmal haben alle Angst, heißt es. Noch mehr Angst als ohnehin. Panische Angst. Hysterische Angst. Es ist der Horror, dröhnt es irgendwo. Alarm, Alarm! Die Virus-Krise! Schrecklich!

Hallo?! Was macht das mit Ihnen, wenn Sie in diesen Tagen die Nachrichten lesen, sehen, hören?

Ich sage Ihnen, was es mit mir macht: nix. Außer: Es nervt. Weil: Es ist immer dasselbe.

Da taucht aus dem Nichts ein Riesending auf, fremd und bedrohlich, das Hechel-hechel-Live-Eilmeldungs-Extrasendungs-Breaking-News-hechel-hechel-Fieber steigt, es löst einen kollektiven Angstschrei aus, nach einiger Zeit beginnt die Verdrängung, die Gewöhnung, aus den Augen, aus dem Sinn, aus dem Bewusstsein, und aus dem Nichts taucht das nächste Riesending auf. Tausendmal erlebt.

Klar: Wir wollen Information. Wir wollen so viel wie möglich in Erfahrung bringen (um uns wappnen zu können); je mehr wir wissen, desto mehr gruseln wir uns: Kann es mich treffen? Ja. Kann passieren. Kann. Aber es ist nicht die Apokalypse. Die Welt dreht sich weiter. Alles schlimmer als je zuvor? Natürlich nicht. Leben ist immer lebensgefährlich (Erich Kästner).

Das Verrückte: Egal, ob wir in der Zeitung schreiben, dass jemand Angst vor dem Coronavirus hat, oder ob wir in der Zeitung schreiben, dass niemand Angst vor Coronavirus hat – nur ein Wort bleibt hängen: Angst.

Wenn wir schreiben: Es gibt ­KEINEN Grund zur Sorge, bleibt hängen: Sorge. Wenn wir schreiben: Es gibt KEINEN Grund zur Panik, bleibt hängen: Panik. Wenn wir schreiben: Es gibt KEINEN Grund für Hamsterkäufe, flitzen die Leute in die Geschäfte und räumen die Regale leer.

Eine List der Psyche. Probieren Sie mal aus, ob Sie dieses kleine Experiment meistern: Denken Sie jetzt bitte NICHT an einen rosa Elefanten. Noch einmal: NICHT an einen rosa Elefanten denken. Wetten, dass Sie es doch tun?!

„Welches ist der widerstandsfähigste Parasit? Ein Bakterium? Ein Virus? Ein Darmwurm? – Ein Gedanke! Resistent, hochansteckend. Wenn ein Gedanke einen Verstand erst mal infiziert hat, ist es fast unmöglich, ihn wieder zu entfernen.“ (Leonardo DiCaprio als Dominick „Dom“ Cobb im Science-Fiction-Film „Inception“)

Danke, Hollywood, danke, Wissenschaft, für diese Erkenntnis: Infektiöser als jede Krankheit ist der bloße Gedanke daran. Angst erzeugt Angst, erklärt der Neurobiologe und Autor Henning Beck. Geteilte Angst ist doppelte Angst. Ein uraltes Verhaltensmuster.

Auf Schritt und Tritt waren die Jäger und Sammler der Vorzeit tödlichen Gefahren ausgesetzt. Sie überlebten, weil sie Nachrichten austauschten und lernten, sich vor Ungemach zu schützen. Wie entzünde ich ein Feuer? Wo ist die nächste Quelle? Warum sollte ich davonlaufen, wenn eine hungrige Raubkatze naht?

Alles, was anders ist als der Alltag, signalisiert: Gefahr! Es ist wichtig, die Dinge zu bewerten und zu sortieren und zu ordnen, damit die chaotische Welt ein bisschen übersichtlicher wird. Für die Altvorderen, die durch die Savanne wetzten, zum Beispiel: Ein wütendes Nashorn ist gefährlicher als ein vollgefressener Löwe ist gefährlicher als eine träge Schlange ist gefährlicher als ein lahmer Affe ist gefährlicher als eine freche Biene ist gefährlicher als ein Marienkäfer. Manchmal ändert sich die Reihenfolge, dann ist eine freche Biene, die sich direkt vor meiner Nase beim Pollensammeln gestört fühlt, gefährlicher als ein vollgefressener Löwe, der weit entfernt unter einem Baum in der Mittagssonne döst. Wer solch eine Liste der gefährlichen Tiere kennt, hat es im Leben leichter als jemand, der ahnungslos ist.

An der Wissbegier des Homo sapiens hat sich nichts geändert. Heute verbreiten Milliarden Erdlinge Milliarden Informationen. Gerüchte rasen in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke. Jeder weiß sofort alles. Oder nichts. Um zu sortieren und einzuordnen, braucht‘s emotionale Distanz und kühle Analyse. Also: entschleunigen; nicht in Hektik verfallen, wenn die Lage verzwickt ist; berichten, was ist, nicht was sein könnte; das nervöse Gezappel aus dem Netz nicht ungeprüft zur Nachricht aufblasen. Ganz altmodisch: erst denken, dann reden.

Logisch, oder? Vernünftig, oder? Und doch: Wenn es brenzlig wird, ist’s vorbei mit der Logik und der Vernunft. Ob sich die Menschen vor Atomkriegen oder Spinnen oder Terroristen oder Viren ängstigen, ganz gleich, in welcher Kultur, in welchem Winkel der Welt – der unmittelbare Reflex ist gleich und in unseren Steinzeit-Gehirnen programmiert: Der Körper setzt Stresshormone frei, beschleunigt den Herzschlag, wir reißen die Augen auf, ergreifen die Flucht. Was uns ängstigt, hängt auch davon ab, wie die anderen sich verhalten. Wir lassen uns emotional anstecken. Der Herdentrieb!

Wir ticken so, weil sich das in der Evolution als Überlebensstrategie erwiesen hat, sagt der Philosoph Rolf Dobelli: „Angenommen, Sie sind vor 50 000 Jahren mit Ihren Jäger-und-Sammler-Freunden in der Serengeti unterwegs, und plötzlich rennen Ihre Kumpels davon. Was tun Sie? Bleiben Sie stehen, kratzen sich die Stirn und überlegen, ob das, was Sie sehen, nun wirklich ein Löwe ist oder nicht vielmehr ein harmloses Tier, das wie ein Löwe aussieht? Nein, Sie spurten Ihren Freunden hinterher, so schnell wie möglich. [...] Wer anders gehandelt hat, ist aus dem Genpool verschwunden.“

Ach du meine Güte. Was könnte ... was hätte ... was wäre ... aus uns geworden, gäbe es die Angst und die Angst vor der Angst nicht.

Hurra, wir leben noch! Und jetzt vergessen Sie bitte bitte bitte diesen komischen rosa Elefanten ...

Bleiben Sie munter!

Peter Reinhart

Stellvertretender Chefredakteur

E-Mail: forum@volksfreund.de

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