Forum Lächeln, einfach nur lächeln

Halte Abstand! Huste in die Armbeuge! Gib mir bloß nicht die Hand! In kürzester Zeit schütteln wir unsere jahrhundertelang gepflegte kulturelle Codierung ab – und entwickeln eine neue.

 Peter Reinhart

Peter Reinhart

Foto: TV/Klaus Kimmling

Uuuuuuaaaaaatttschiiiiiii!!!!!!!

Es war der längste und lauteste Nieser, den ich je erlebt habe. Vor etwa zehn Jahren, auf dem Markt in Alt-Delhi, dem Zentrum der indischen Megametropole. Was für ein Gewusel. Stimmengewirr, Musikfetzen, Hupkonzerte. Rikschas, Tuktuks, heilige Kühe. Und Menschen, Menschen, Menschen. Dichtgedrängt. Der Stand eines Gewürzhändlers. Pfeffer, Kardamom, Nüsse, Kräuter, Trockenfrüchte … in Säcken, Schüsseln, Schalen. Herrlich bunte Pracht. Mitten drin in der Menge ein Sikh, zwei Meter groß, mit Turban, er feilscht mit dem Gewürzhändler. Plötzlich niest er. Gewaltig. Hand vorm Gesicht? Nö. Der Urknall aller Tröpfcheninfektionen.

Uuuuuuaaaaaatttschiiiiiii!!!!!!!

Eine unvergessliche Szene. Sie fällt mir ein, während ich darüber nachdenke, wie die Corona-Pandemie den Alltag verändert. Lieber Mr. Singh, wir niesen, husten, schniefen jetzt bitte schön in die Armbeuge!

Eine neue Kulturtechnik. Eine alte, in westlichen Ländern verbreitete, scheint dagegen abgeschafft. Das Händeschütteln, seit der Römerzeit üblich. Zur Begrüßung, zum Besiegeln von Verträgen („Hand drauf!“), um zu erkunden, ob das Gegenüber ein selbstbewusster Typ ist (fester, zupackender Händedruck) oder ein Schluffi (weiches, zartes Tätscheln). Ursprünglich war’s offenbar eine Geste, die signalisieren sollte: Ich habe keine Waffe, du kannst mir vertrauen. Nun ja, Viren sind Waffen, besonders gefährliche sogar. Beim Händeschütteln werden Erreger weitergegeben. Schon immer. Deshalb ist es gut, dass wir es in Europa neuerdings so machen wie die Menschen anderswo auf der Welt: Wir verzichten auf den Handschlag und schenken uns zur Begrüßung ein Lächeln. (Dass sich das mancherorts beobachtete Füßeln durchsetzen wird, bezweifle ich, und das Anstupsen mit den Ellbogen, hoffentlich ohne vorher in die Armbeuge geschnäuzt zu haben, hat wohl auch keine Zukunft).

Andere Länder, andere Sitten. Mir gefällt seit jeher der traditionelle indische Gruß: Handflächen vor der Brust aneinanderlegen, den Kopf leicht nach vorne neigen und „Namaste!“ sagen, „Guten Tag!“. Das passt immer, sogar nachts.

Zum Abschied heißt es bei uns nicht mehr „Auf Wiedersehen!“, „Ciao Ciao!“ oder „Tschö!“, die Leute rufen sich, aus sicherem Abstand, ein „Bleib(t) gesund!“ zu, längst ist die Formel in Briefen und E-Mails zu finden. Wie war das damals noch, vor dem Corona-Stresstest? „Mit freundlichen Grüßen!“, „Herzlichst!“ oder „Hochachtungsvoll!“ Vorbei.

Und wieder einmal lernen wir: Wenn es nottut, schaffen wir es schwuppdiwupp, die teils jahrhundertelang gepflegte kulturelle Codierung abzuschütteln. Bemerkenswert.

Namaste, bleiben Sie munter!

Peter Reinhart

Stellvertretender Chefredakteur

E-Mail: forum@volksfreund.de

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