Aha-Effekte

Wir laden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zum Dialog ein. Sagen Sie uns Ihre Meinung! Das Motto: Leser fragen - die Chefredaktion antwortet.

Simon Kiebel aus Föhren schreibt: Mit dem Seite-eins-Foto der Ausgabe vom 14. Februar hat der TV einen neuen Rekord in Sachen überflüssigstes Titelbild aufgestellt. Mittlerweile habe ich mich ja an die kitschigen Fotos zum Muttertag und zu ähnlich banalen Anlässen gewöhnt, aber dieses Titelbild zum Valentinstag, gepaart mit der Überschrift "Küsst Euch!", ist ja fast schon "Bild"-Zeitungs-Niveau. Wem der Valentinstag wirklich wichtig ist, der denkt von selbst daran und braucht nicht durch ein pornografisch anmutendes Foto daran erinnert zu werden. Momentan gibt es sicherlich genug andere Themen, die viel dringender auf die Titelseite gehörten (Frauenproteste in Italien, die Lage in Algerien oder Anti-Rechts-Demos in Dresden), als eine Tradition, die mit Liebe immer weniger, dafür mit Kommerz immer mehr zu tun hat, wie der TV selbst mit seinem Artikel über Umsatzzahlen im Blumenhandel beweist.

Lieber Herr Kiebel,

vielen Dank für Ihre Zuschrift. Über den Kussmund, der am Valentinstag auf der Titelseite des TV prangte, lässt sich trefflich streiten. Und genauso soll es ja sein. Ein Hingucker. Ein Blickfang. Ein Motiv, das Emotionen auslöst, Gefühle anspricht - und dafür sorgt, dass der Betrachter sich damit auseinandersetzt, sich darauf einlässt und sich eine Meinung bildet: Anregend? Abstoßend? Gleichgültig?

Wir leben in einem Zeitalter der Bilderflut. Wer Aufmerksamkeit wecken will, muss Akzente setzen, muss Sehgewohnheiten durchkreuzen, muss Leser fesseln. Alles, nur keine Langeweile aufkommen lassen!

Längst vorbei sind die Zeiten, als die Titelseiten der Tageszeitungen ausschließlich mit politischen Themen bestückt waren - und Bildern, auf denen Politiker winkten oder Hände schüttelten. Fotos von den großen Männern dieser Welt, die unablässig Geschichte schreiben. Immer dasselbe Muster. Tag für Tag. Eintönig.

Heute bemühen sich die Blattmacher um Abwechslung, um Überraschung, um Aha-Effekte. "Harte" Nachrichtenbilder im Wechsel mit "weichen" Schmuckfotos. Mal Kriege, Konflikte oder Katastrophen. Mal Unterhaltung, Prominente oder Sport.

Beispiel Ägypten: Innerhalb von zwei Wochen haben wir sechs Motive vom Volksaufstand auf Seite eins gebracht: Eine Frau, die ihre Empörung herausschreit. Ein Mann, der sich vor die Ketten eines Panzers geworfen hat. Die Menschenmenge auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Ein zerrissenes Mubarak-Plakat. Die bröckelnde Büste des wankenden Tyrannen. Freudentaumel nach dem Rücktritt.

Aber immer nur Blut, Schweiß und Tränen? Nein, das will doch niemand sehen. Also gibt's zwischendurch die rasante Schussfahrt einer Skirennläuferin, eine witzige Zeichnung zu Berlusconis Bunga-Bunga-Burleske, einen Schnappschuss von Restaurierungsarbeiten in der Trierer Liebfrauenkirche und eben auch den Versuch, mit einem Kussmund das Thema "Valentinstag" anzureißen.

Nicht alles gefällt allen. Und mitunter stellen wir in der Redaktionskonferenz am nächsten Tag fest: Hhm, so dolle war das nicht. Aber ist das nicht ganz normal? Wer unter Tausenden von Fotos das "Eine" auswählen muss, liegt schon mal daneben.

Nur ganz wenige Bilder sind zu Ikonen geworden, die sich ins Gedächtnis der Menschheit einbrennen. Das Napalm-Mädchen in Vietnam. Willy Brandts Kniefall in Warschau. Neil Armstrong auf dem Mond. Die einstürzenden Türme in New York.

Derlei gibt die Nachrichtenlage jedoch selten her. Das Seite-eins-Foto aus der endlosen Bilderflut herauszufiltern, bleibt daher immer auch ein Stück weit: Versuch und Irrtum.

Herzliche Grüße!

Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur

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