Angst, Gewalt und entfesselte Leidenschaft

Luxemburg · Pünktlich zum Geburtstag hat sie Strawinskys heidnisches Fruchtbarkeitsballett aktualisiert und damit beeindruckt: Mit anhaltendem Applaus feierten die 750 Zuschauer im Luxemburger Grand Théâtre Sasha Waltz\' neue Tanztheater-Produktion "Le sacre du printemps".

Luxemburg. Psycho-Vater Sigmund Freud hätte seinen Spaß gehabt. Dichter Nebel hüllt die Bühne ein. Wenn er verschwindet, wird sichtbar, was sich im düsteren Grau verbirgt: ein Abgrund voller dunkler Triebe, unkontrollierter Gewalt, von Angst und entfesselter Leidenschaft.
Sasha Waltz hat in ihrer Choreografie zum 100. Geburtstag von Igor Strawinskys berühmten Ballett "Sacre du printemps" auf alles überflüssig Erzählerische und Illustrative verzichtet.
Schwert hängt über der Bühne


Um die Geschichte ins Bild zu setzen, um die es hier geht, kommt sie mit einem Steinhaufen und einem riesigen von der Decke herabhängenden Schwert aus. In einem heidnischen Frühlings- und Fruchtbarkeitsritual soll ein Mädchen geopfert werden (Bühnenbild: Pia Maier Shriever, Sa sha Waltz). In schlichte Gewänder, die an die antike Tragödie erinnern, sind auch die Tänzer gekleidet (Kostüme: Bernd Skodzig).
Die Berliner Choreografin, berühmt und gelegentlich berüchtigt wegen ihrer spektakulären Einfälle, konzentriert sich diesmal auf das, was Ausdruckstanz ist: Musik, die in Bewegung und Gestik Gestalt wird. Das macht sie großartig. In Waltz\' Kraftfeld aus Ton- und Körpersprache ist der Mythos Gegenwart. Was unaufgeklärter frühzeitlicher Ritus scheint, wird zum bildmächtigen zeitlosen Gleichnis existenzieller Befindlichkeit, zum Bild von Urgewalt, Urangst und Urtrieben und kollektiver kollektive Macht.
Dynamisch und ausdrucksstark bewegt sich die barfüßige, auf 28 Tänzer verstärkte Truppe. Wie ein expressionistisches Bild wirken bisweilen die zu Ausrufezeichen gedehnten, in die Luft gereckten Glieder. Eben noch haben sich die Körper zur formlosen Masse zusammengeballt, wenig später stehen sie als drohende Wand ihrem Opfer gegenüber oder jagen wild über die Bühne.

Kampf ums nackte Leben


Unerbittlich hämmern sie den harten Rhythmus der Musik und zucken wie in Krämpfen. Triebhaft wälzen sie sich im zerstiebenden Steinhaufen, keuchen orgiastisch, verheddern ihre Glieder, verkeilen sich ineinander und schichten sich selbst und die wiederkehrenden Motive der Musik aufeinander (Musik hier als Aufnahme des Chicago Symphony Orchestra unter Daniel Barenboim). Am Ende kämpft das seiner Kleidung entledigte Opfer (Maria Marta Colusi) verzweifelt seinen aussichtslosen Kampf ums nackte Leben.
Angefangen hatte der Abend tröstlich mit Claude Débussys "L\'Après-midi d\'un faune" und einer herrlich geschmeidigen, fließenden "Scène d\'amour" aus Hector Berlioz\' Ballett "Roméo et Juliette" mit der wunderbaren Emanuela Montanari als Julia und Antonio Sutera als Romeo.

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