Bildung

Zum Artikel "Ein Fach fürs Leben" (TV vom 30. Juni) und zum Analphabetismus in Deutschland:

Wie kann es sein, dass 7,5 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland nicht lesen und schreiben können, obwohl sie alle der Schulpflicht genügt haben? Wie kann es sein, dass weitere 13 Millionen der Schulabgänger "größere" Probleme beim Lesen und Rechtschreiben haben und sich ihr Sprachschatz auf Grundschulniveau bewegt? Wie kann es also sein, dass somit rund 40 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung keine oder nur eine unzureichende Kompetenz haben, an gesellschaftlich-relevanten Prozessen teilhaben zu können? Diese erschreckende Zahl an kompletten beziehungsweise funktionalen Analphabeten produziert unser Schulsystem, das sich andererseits rühmt, die Quote der Studienberechtigten von fünf Prozent eines Jahrgangs im Jahre 1950 auf annähernd 50 Prozent in unseren Tagen gesteigert zu haben. Wohlgemerkt, diese erschreckenden Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen, sie stammen nicht etwa aus der Statistik irgendeines Drittweltlandes, sie sind 2011 publiziert in der Level-One-Studie der Universität Hamburg. Und was ist mit der anderen Hälfte der weniger begabten Schüler? Was läuft da schief in diesem Schulsystem? Liegt es am Versagen der Grundschule als einziger flächendeckender Gesamtschule, die wir uns leisten? Ist ihr Lehrplan überfrachtet? Fehlt die Zeit zum Üben? Wie steht es um die Qualität des Erstlese- und -schreibunterrichts? Entlässt sie Kinder in weiterführende Schulen, obwohl sie nicht über die nötigen Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen verfügen? Werden in den weiterführenden Schulen genügend Anstrengungen unternommen, den schwächeren Schülern zu helfen? Sind auch hier viele Unterrichtsfächer thematisch überladen oder gehen sie etwa an der Lebenswirklichkeit vorbei? Die kürzlich von der Bundesbildungsministerin Johanna Wanka und ihrer Parteifreundin Julia Klöckner (CDU) zur Einführung eines neuen Schulfachs "Alltagswissen" gemachten Vorschläge zur Verbesserung der "Alltagskompetenz" sind wohlwollend bestenfalls auf dem Hintergrund dieser Fragen zu bewerten, zeugen aber von wenig Sachkenntnis. Unser Schulsystem hält eine immens breite Palette von Fächern bereit, in denen dieses ominöse "Alltagswissen" längst vermittelt wird: Arbeitslehre, Sozialkunde, Ethik, Biologie, Physik, Chemie, Erdkunde, Medienkunde sind nur einige Beispiele. Ein weiteres Schulfach ist da überflüssig. Es liegt nicht am Unterrichtsfach, sondern an der Fähigkeit, Schriftliches zu verstehen. Horst Becker, Arzfeld

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