Leserbriefe Bildungspolitische Träumerei

Zum Kommentar „Nachsitzen, bitte!“ (TV vom 3./4. Februar) schreibt Dr. Andreas Wagner:

Kritisch begleitet Thomas Roth die sogenannten bildungspolitischen Ziele der sich formierenden großen Koalition. Dabei konstatiert er: „Schon ist von einem Rechtsanspruch für eine Ganztagsbetreuung an Grundschulen die Rede. Wer soll dagegen schon etwas haben?“ Gegen einen weiteren Ausbau von Ganztagsschulen lässt sich durchaus vieles sagen, mehr jedenfalls, als in einen Leserbrief hineinpasst.

Deshalb nur ein paar wenige Anmerkungen: Den ersten Einwand formuliert Herr Roth eigentlich selbst. Der weitere Ausbau verschlingt jede Menge Geld. Dabei hapert es allerorten jetzt schon an der Qualität des Bestehenden, hierin sind sich fast alle einig. Wenn jetzt noch – wie prognostiziert – ein Lehrermangel bevorsteht, müsste eine Bildungspolitik, die diesen Namen verdient, eine klare Prioritätenentscheidung fällen zwischen rein quantitativem Ausbau der Kinderbetreuung, deren Qualität oder drittens – fast schon vergessen – dem Unterricht. Wer glaubt, man könne den Schulen die Aufgabe der nachmittäglichen Kinderbetreuung möglichst komplett übertragen und gleichzeitig die Unterrichtsqualität wenigstens halten, ist ein Träumer. Daran ändern auch ein paar Milliarden aus Berlin nichts. Das ernüchternde Fazit lautet vielmehr: Jeder Ausbau der Ganztagsschule führt letztlich zu Qualitätsverlusten im Kernbereich der Schule, nämlich im Unterricht.

Was die zukünftige Bundesregierung plant, ist keine Bildungs-, sondern eine Betreuungsoffensive. Hier sollte auch in den Medien klarer differenziert werden. Wie Herr Roth auf die Idee kommt, dass durch solche Maßnahmen Bremer Schüler ihren statistischen Bildungsrückstand aufholen können, erschließt sich dem Leser nicht. Gegen einen weiteren Ausbau der GTS, der auf absehbare Zeit in einer Pflichtganztagsschule für alle münden wird, lässt sich weiterhin einwenden, dass das Grundgesetz die Aufgabe der Kindererziehung klar den Familien und nicht primär den staatlichen Institutionen zuweist. Schule war in Deutschland traditionell Unterrichtsschule. So wurden Gebäude und Grundstücke geplant, Fächer und Lehrpläne entwickelt, Lehrerausbildung organisiert und Unterrichtstraditionen geschaffen. Wer die Aufgabe von Schule umzudeuten versucht und aus ihr eine „Lebenswelt“ machen will, wie es heute vielerorts zu hören ist, sollte die Folgen bedenken: Einheitserziehung, Einheitsernährung, dauerhafter Aufenthalt in der Großgruppe mit entsprechender Lärmbelästigung und sozialem Stress, dauerhafte Beaufsichtigung und Beschäftigung durch Erwachsene, Verarmung der Freizeitangebote, allmähliches Austrocknen gewachsener Strukturen in Sportvereinen, Laienmusik, Freiwilliger Feuerwehr oder Kirchengemeinden. Das alles soll jetzt die Ganztagsschule leisten, durch Kooperationen, durch „Öffnung zur Lebenswelt“ und so weiter. Aber auch hier gilt: Daran glauben, dass das funktioniert, kann nur ein Träumer.

Was Ganztagsschule am allerwenigsten zu leisten vermag, selbst wenn sie personell und finanziell gut ausgestattet wäre, ist mit das Wichtigste: Freiheit für individuelle Entwicklung. Schon Fahrradfahren ist hier kaum realisierbar, Baumklettern ausgeschlossen. Freiraum für individuelle Aktivitäten kann immer nur in ganz eng begrenztem Rahmen gewährt werden. Eltern können frei entscheiden, wie viel Spielraum sie ihren Kindern gewähren. In Schulen stehen dem Aufsichtspflicht und die Eigendynamik der Großgruppe entgegen. Insofern kann man nur hoffen, dass der neuen Regierung für ihre sogenannten bildungspolitischen Projekte vielleicht doch das Geld ausgehen wird.

Dr. Andreas Wagner, Trier

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