Brauchtum

Zu Barbara Mays Geschichte "Eine Gans fliegt davon - St. Martin zu Gast bei den Schlottmanns" (TV vom 12./13. November):

Kann das sein, dass eine Geschichte, die wir zu kennen meinen, weil wir sie schon Tausende Male haben erzählen hören, uns plötzlich umhaut? Weil sie ein wenig anders erzählt und dabei dem selbstverständlich Gewordenen sein Selbstverständliches wieder entrissen wird. Natürlich ist, was St. Martin tut, keineswegs selbstverständlich. Und natürlich fühlen wir uns jedes Jahr am 11. November durch das Beispiel aufgefordert, es St. Martin gleichzutun. Was uns dann genauso verstört wie den kleinen Thomas aus Barbara Mays zauberhafter Geschichte "Eine Gans fliegt davon - St. Martin zu Gast bei den Schlottmanns". Und dem dann prompt gar keine Bettler über den Weg laufen, an die er die zwei Euro, die er von seiner Oma bekommen hat, weiterverschenken könnte. Aber er will doch nur Gutes tun! Seien wir ehrlich: Oft sind wir nicht viel weiter als dieser kleine Junge: Wir wollen zu den Guten gehören. Ständig geben wir unsere Meinung darüber ab, was wir für moralisch richtig, was für moralisch falsch halten. Immer ist es uns darum zu tun, uns richtig gut zu fühlen. Und sei es im kollektiven Aufschrei über die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Wieder mal sind wir uns alle einig, was für ein Idiot! Nur dass nichts und niemandem geholfen ist, wenn wir uns alle einig sind. Deshalb müssen wir nicht verzagen. Dass Thomas in Barbara Mays Geschichte die grundsätzliche Bereitschaft hat, Gutes zu tun, kommt ihm sicher zugute, als es für ihn dann wirklich heißt, Farbe zu bekennen und abzugeben, was abzugeben ihm wehtut. Da ist er dann, der heilige Martin, einer, der aus seinem selbstverliebten Beisichsein hinaus muss. Die Tränen zeigen es, es tut Thomas weh, dem noch Kleineren seine Laterne zu überlassen. Wollen wir's ihm nachtun, müssen wir genauso hinaus aus unseren Selbstversicherungsritualen, auf der Seite der Guten zu stehen. Dann merken wir erst, dass es wehtun kann, auf die Globalisierung einmal nicht mit einer totalen Bereitschaft zur Selbstoptimierung zu reagieren, sondern mit einem Schritt auf die zu, die sich von ihr überrollt fühlen. Barbara May erzählt uns eine St.-Martin-Geschichte, wie sie in unsere Zeit passt und in aktueller Lage ein Zeichen setzt. Luise Battenberg, Trier

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