Bildung Das Leben in seiner ganzen Fülle

Zu den Artikeln „Schüler wollen Religionsunterricht abschaffen – Kirchen protestieren“ und „Der Religionsunterricht – eine Glaubensfrage“ sowie zum Kommentar „Lasst die Schüler voneinander lernen!“ (TV vom 31. Oktober/1. November) schreiben Wolfram Viertelhaus, Wolfgang Hertel, Horst P. Schmidt, Sarah Rau, Damian Hippolyt Gindorf und Ullrich Papschik:

„Jeder Lehrer behauptet von seinem Fach, dass es das wichtigste sei, aber bei Religion stimmt es!“, habe ich bei Diskussionen über den Religionsunterricht immer wieder mal mit leicht schmunzelndem Unterton meinen Schülern gesagt. In keinem anderen Fach kommt das Leben in seiner ganzen Fülle so zur Sprache wie im Religionsunterricht: Fragen zu Leben und Tod, Glaube und Religion, zu ethischen Problemen, Informationen über andere Religionen und Weltanschauungen und so weiter. Wenn er nicht sowohl nach dem Grundgesetz wie der Landesverfassung in den Schulen verankert wäre, müsste man ihn gerade heute einführen! Wie ist die – im Stil der Bild-Zeitung – verfasste Überschrift zu verstehen, wenn auf der nächsten Seite mitgeteilt wird, dass fast dreiviertel aller Schüler freiwillig am Religionsunterricht teilnehmen? Denn es gibt den Ethikunterricht – in Rheinland-Pfalz auch verfassungsmäßig verankert –, in den jeder wechseln kann, der keinen Religionsunterricht wünscht. Dass der Religionsunterricht nach dem Grundgesetz konfessionell erteilt wird, begründen Vertreter der Religionslehrerverbände in dem TV-Artikel. Allerdings sei eingeräumt, dass auch in Rheinland-Pfalz über einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht nachgedacht werden sollte, wie er in Baden-Württemberg schon lange erprobt wird. Eine stärkere offizielle ökumenische Verzahnung des Religionsunterrichts ist heute geboten. Inoffiziell wird der Religionsunterricht an vielen Grund- und Berufsschulen schon lange ökumenisch gehalten.

Die Artikel erregen den Anschein, dass die Inhalte ausschließlich von den Kirchen bestimmt wird. Er ist in Deutschland eine res mixta, eine gemeinsam von Staat und Kirche verantwortete Angelegenheit. Daher sei darauf hingewiesen, dass die Religionslehrer an staatlichen Hochschulen nach von Staat und Kirche verantworten Vorgaben ausgebildet werden und staatliche Prüfungen ablegen. Wer sich die Mühe macht, die problemlos im Internet einsehbaren Lehrpläne genauer anzusehen, erkennt, dass es nicht darum geht, „zur Gottesfurcht“ zu erziehen. Die Lehrpläne entsprechen den vom Staat vorgegebenen Erziehungszielen. An dem immer noch gültigen Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe (MSS) für Rheinland-Pfalz habe ich als staatlicher Beamter mitgewirkt, und in unserer Kommission war ein Vertreter des Bildungsministeriums! In diesem Lehrplan ist etwa vorgegeben, dass jedes Halbjahresthema jeweils auch unter dem Blickwinkel einer anderen Religion bearbeitet werden muss. Ein Blick in die aktuellen Religionsbücher kann auch hilfreich sein, um zu erkennen, wie offen und umfassend der Religionsunterricht konzipiert ist.

Für viele stehen heute die Mint-Fächer (Naturwissenschaft und Mathematik) im Vordergrund. Um eine einseitige Erziehung zu verhindern und eine umfassende Bildung zu ermöglichen, sind Fächer wie Religion, Ethik, Musik und Kunst dringend nötig und sollten entsprechende Anerkennung erfahren.

Wolfram Viertelhaus, Wittlich, Lehrer für kath. Religion, Geschichte, Mathematik i.R.

Es ist ermutigend, dass eine zunehmend emanzipierte und verantwortungsbereite Jugend nicht nur gegen die umweltzerstörende, klimaverachtende Gleichgültigkeit (nach mir die Sintflut) eines Großteils des gesellschaftlichen und politischen Establishments aufbegehrt. Sie wendet sich erfreulicherweise auch gegen religiösen Mief, gegen Indoktrinationsunterricht und Bevormundung durch kirchliche Institutionen, deren grundgesetzliche Privilegierung elementaren Verfassungsgrundsätzen wahrhaft demokratischer Staaten spottet.

Dass Religionslehrer (nicht Lehrer!) und kirchliche Kreise die Abschaffung des Religionsunterrichts ablehnen, ist genauso banal wie die Ablehnung von Rauchverboten durch notorische Raucher. Der „moderne evangelische Religionsunterricht“ klingt wie Dieselfahrzeug mit Abschaltautomatik.

Religion ist reine Privatsache. „Religionsunterricht“ (in Frankreich Katechismus genannt) gehört daher nicht in die Schule. Eine denkbare Konzession wäre, einzig im Interesse der Schüler, die unentgeltliche Nutzung der staatlichen Schulräume. Aber nur, wenn dieser Unterricht nicht den regulären Schulbetrieb tangiert, die Unterrichtenden einzig von den Religionsgemeinschaften gestellt und bezahlt werden, die Teilnahme oder gar Benotung im Schulzeugnis unterbleibt.

So ist es höchste Zeit (ähnlich Frankreich seit 1905 und Luxemburg seit 2017), den Religionsunterricht an staatlichen Schulen abzuschaffen. Die Einführung eines allgemein verpflichtenden „Ethikunterrichtes“ ist dann sicher sinnvoll. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Die derzeitige Regelung eines verpflichtenden Ethikunterrichtes als Zwangsmaßnahme gegen Religionsverweigerer (aus Überzeugung oder Faulheit) ist inakzeptabel. Hier wird die grundgesetzlich verbriefte Religionsfreiheit unterlaufen, die Schulpflicht zur Durchsetzung einer de facto Religionspflicht (ähnlich der damaligen Wehrpflicht) missbraucht. Wer sich der Droge Religion entziehen will, wird verpflichtet, Vitamintabletten zu schlucken.

Wolfgang Hertel, Konz

In den Berichten wird klar und deutlich die Position und Forderung der Landesschülervertretung (LSV) begründet, den konfessionellen Religionsunterricht abzuschaffen und an dessen Stelle einen Ethik-Unterricht für alle Schüler zu etablieren, der Weltanschauungen, Religions- und Gesellschaftskritik beleuchtet und sich einem einseitigen, indoktrinierten Religionsunterricht über Glaubensinhalte widersetzt.

Ich bin aus verschiedenen Gründen ein Gegner des konfessionellen Religionsunterrichts: Erstens verstärkt er den Trend zur religiösen Gettoisierung der Gesellschaft. Zweitens ist er ein Fremdkörper im schulischen Curriculum, das Erkenntnisse vermitteln soll, die belegt sind – nicht Bekenntnisse, die weitgehend widerlegt sind. Drittens fördert der Religionsunterricht die problematische Neigung zum konventionellen Denken, da er grundsätzlich von einer göttlich vorgegebenen Werteordnung ausgehen muss. Viertens untergräbt die religiöse Rückbindung der Normen eine politische Einsicht, die für plurale Gesellschaften maßgeblich ist: Denn Werte, die für alle gelten sollen, müssen auch für alle einsichtig sein, weshalb sie eben nicht auf religiösen Überzeugungen fußen dürfen, die weite Teile der Bevölkerung nicht akzeptieren. Fünftens – und das ist vielleicht der schwerwiegendste Einwand – läuft der konfessionelle Religionsunterricht auf eine weltanschauliche Manipulation von Kindern und Jugendlichen hinaus.

Meines Erachtens sprechen diese fünf Gründe grundsätzlich gegen den konfessionellen Religionsunterricht – auch wenn ich keineswegs in Abrede stellen möchte, dass viele Religionslehrer trotz der problematischen Vorgaben ihres Fachs einen guten, wertvollen Unterricht anbieten.

Doch gerade diese offenen, engagierten Lehrpersonen könnten sich in einem allgemeinverbindlichen Fach, in dem sich die Schüler unabhängig von ihrer familiären Herkunft mit Fragen der Lebensgestaltung, der Ethik, der Religion und Weltanschauung auseinandersetzen, weit besser entfalten, als dies im traditionellen Religionsunterricht möglich ist.

Für die Schüler, letztlich für die Gesellschaft als Ganzes, wäre es ein beachtlicher Fortschritt, wenn in der Schule allgemeine Wertebildung an die Stelle konfessioneller Werteerziehung treten würde. Dass sich die Religionen aufgrund ihres institutionellen Eigeninteresses gegenüber solchen Innovationen verschließen und mit aller Macht verhindern möchten, mag verständlich sein, dies sollte aber den pädagogischen Diskurs nicht bestimmen.

P.S.: Dem Kommentar von Christian Thome („Lasst die Schüler voneinander lernen!“) kann ich nur zustimmen.

Horst P. Schmidt, Trier

Artikel 7 des Grundgesetzes sichere den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ab. Daher, so heißt es in der Stellungnahme des Bistums, solle „er nicht als besonderes Privileg gesehen werden, sondern als die Delegierung einer Aufgabe, die der demokratische und weltanschaulich neutrale Staat nicht selbst leisten kann“. Religionsunterricht erschöpfe sich nicht „in reiner Glaubensunterweisung, sondern fördert das kritische Verständnis und eine begründete, reflektierte eigene Position“, heißt es im TV.

Was wollen wir tun, wenn im Deutschunterricht kein Schüler mehr den Lebensstil und die Ansichten von Goethes Gretchen im „Faust“ versteht?

Was wollen wir tun, wenn Michelangelos „Erschaffung des Adam“ und die acht weiteren Fresken aus der Sixtinischen Kapelle lediglich als dekorative Wand-Tattoos verbleiben, weil niemand mehr die Geschichten und Botschaften dieser Meisterwerke kennt?

Was wollen wir tun, wenn Mendelssohns Psalmvertonungen bestenfalls als musikalisch wertvolle Kompositionen verstanden werden, die auf Grund von fehlendem Verständnis für den Text und für die Bedeutung der Psalme durch die Jahrhunderte hindurch ihrer Texte nicht bedürfen?

Was wollen wir tun, wenn unsere (christlichen) Feiertage als reine arbeitsfreie Tage verstanden werden, wenn Osterhase, Weihnachtsmann, Kürbisse und Pfingstferien als Hauptakteure verantwortlich sind, dass wir mal wieder ausschlafen können?

Ich stimme zu, dass der Religionsunterricht, wie ich ihn früher selbst erleben durfte, sich häufig völlig lebensfremd gestaltete. Doch gab es auch vor 20 Jahren schon Lichtblicke, wenn die Lehrkraft es schaffte, auch kirchen- und glaubensfernen Mitschülern eine Relevanz des Unterrichtsstoffs für ihr Leben aufzuzeigen.

Die Mischung macht’s! Ich bin ein Gegner eines kategorischen „Nein!“ zum Religionsunterricht an unseren Schulen! In kaum einem anderen Fach unseres Bildungsangebots an Regelschulen besteht die Möglichkeit, unsere Kinder und Jugendlichen so intensiv auf ihr Leben in einer immer verwirrenderen Gesellschaft vorzubereiten, sie zu lehren, sich eigene Meinungen zu bilden, diese zu vertreten und sich in zielführenden Diskussionen auszutauschen, zu akzeptieren, zu tolerieren.

Das „neue“ Fach „Leben und Gesellschaft“, das vor nun schon mehr als drei Jahren in Luxemburg den Religions- und Ethikunterricht ersetzt hat, verfolgt ähnliche Ziele. Doch möchte ich noch einmal auf die zu Beginn aufgeworfenen Fragen verweisen, wenn wir uns mit dem Gedanken beschäftigen, ob es den Religionsunterricht an unseren Schulen noch braucht. Könnte eine Ausweitung, Akzeptanz und Wertschätzung dieses Fachs uns und vor allem unsere Kinder und Jugendlichen nicht doch zu verständigeren Menschen auch unserer Kultur und Gesellschaft machen?

Sarah Rau, Trier

Sehr geehrte Landesschülervertretung, Ihre Forderung, den Religionsunterricht abzuschaffen, schockiert mich. Stets wollen Sie Menschen vor Unfairness und Ausgrenzung schützen. Sie fordern Sensibilität gegenüber Minderheiten, aber Sie tun dies auf Kosten derer, die in Ihr Weltbild nicht passen.

Sie verletzten mich zutiefst, denn unter meinen fünf Fächern liebe ich kein Fach so sehr wie katholische Religion. Es legt die Basis für Anstand, Vernunft und demokratisches Verhalten, weil es sich einem menschenfreundlichen Gott widmet, der für uns alle Vater ist. Wenn Sie Gott emotional nicht fassen können, probieren Sie es doch einmal kognitiv: Wie ist alles entstanden? Durch den Urknall? Wie ist der Urknall entstanden? Aus dem Nichts? Googeln Sie doch mal den Energie- und Massenerhaltungssatz und sagen Sie mir, wie ein Atom oder eine Ladung aus dem Nichts entstanden sind, ohne Naturgesetze zu leugnen. Gott steht hinter und damit über den Naturgesetzen. Dass es ihn gibt, kann also jeder wissenschaftliche Typ genauso erfahren wie der emotionale, für den das Band der Liebe und Freundschaft elementarer sind als Ladungen und Atome. Da es Gott gibt, braucht es auch Religionsunterricht.

Als Historiker versichere ich Ihnen, dass es zu Kriegen vor allem dann kam, wenn der Glaube für Machtinteressen verfälscht wurde (Beispiel Dreißigjähriger Krieg) oder wenn er auf breiter Basis schwand wie im Nationalsozialismus. Mit steigendem Katholikenanteil sank reichsweit der Prozentanteil der NSDAP bei Wahlen. Es war die katholische Kirche, die in Zeiten ärgster Verfolgung um die Rettung zahlloser Juden und Behinderter bemüht war. Hitler traute sich nicht an die Kirchen. Er fürchtete, das Volk zu verlieren, wenn er sie gleichschaltete. Als er Rom einnahm, machte er Halt vor dem Vatikan.

Ich erhebe die Fahne für alle Kollegen, dass unser Religionsunterricht Prävention vor Radikalisierung im religiösen und nichtreligiösen Sinne ist, dass er Demokratisierung mehr fördert als jeder Werteunterricht, denn die Werte des Menschseins, Nächstenliebe, Toleranz und Demut, entstammen dem Glauben. Wo der Glaube fehlt, fehlt bald der Grund, diese Errungenschaften einer jahrtausendealten Geschichte weiter zu vertreten. Zurzeit geschieht in der Gesellschaft die Rechtsradikalisierung konservativer Milieus und die Linksradikalisierung von Reformmilieus, gepaart mit einem breiten Glaubensverlust, wie in den 1930ern.

So, wie Sie sprechen, haben Sie sich nie wirklich für den Reli-Unterricht interessiert oder konnten mit Ihren Lehrern nicht umgehen. Laut Satzung vertreten Sie die Schülerschaft in Rheinland-Pfalz. Wen vertreten Sie, wenn 75 Prozent den konfessionellen Unterricht besuchen? Was gewinnen Sie durch Werteunterricht? Sie erhalten ihn mit Ethik, wenn Sie möchten. Bitte lassen Sie allen anderen das Fach, für das sie sich spätestens mit dem 14. Lebensjahr selbständig entschieden haben und das sie lieben. Fordern Sie Wahlfreiheit nicht nur für sexuelle Entscheidungen oder die Teilnahme an Fridays-for-Future-Demos, sondern konsequenterweise auch für den Reli-Unterricht. Ihre Pressemeldung ist ein Armuts-Zeugnis, das von allem, nur nicht von Reife und Demut, zeugt. Halten Sie es in Zukunft doch mit einer Strategie, die Sie in allen Fächern lernen: „Erst denken, dann reden!“

Ich lade Sie herzlich ein, meinen Unterricht kennenzulernen. Dann können wir offen diskutieren.

Damian Hippolyt Gindorf, Quint, katholischer Religionslehrer, 24 Jahre

Vergaß oder unterschlug der TV den evangelischen Reformationstag, indem die Doppelausgabe 31. Oktober/1. November allein mit „Allerheiligen“ überschrieben wurde? Als ich die Zeitung morgens aufschlug und nicht nur kein Datum, sondern überall nur „Allerheiligen“ und die Diskussion über die Abschaffung des Reli-Unterrichts las, fühlte ich mich auch gleich als Betroffener einer vergessenen oder sogar zweitklassigen Religion.

Durch die Unterschlagung eines ganzen Tages, nämlich des offiziellen Reformationstags im Feiertagskalender, hat sich der TV nicht gerade mit ökumenischen oder reformatorischen Ruhm bekleckert.

Und so muss ich als Mitglied der Evangelischen Kirche betonen, dass eine Abschaffung des Reli-Unterrichts solange nicht in Betracht kommen kann, bis diese Bildungslücke im Umgang mit unserer Feiertagskultur und christlichen Feiertagen ausgeräumt ist.

Ullrich Papschik, Bitburg

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