leserbriefe Die Bayern vergessen ihre eigene Geschichte

Zum Artikel „Wie mit Begriffen in der Flüchtlingsdebatte Politik gemacht wird“ (TV vom 28. Juni) und zu weiteren Beiträgen über den Asylstreit in der Union schreibt Hellmuth Milde:

In der Nachkriegszeit bezeichnete man Ostflüchtlinge aus  Schlesien, Ostpreußen oder Pommern als „Heimatvertriebene“.

Bei den Menschen, die heute aus Syrien, Afghanistan oder Afrika kommen,  spricht man dagegen von „Flüchtlingen“.

Hinter dieser Sprachregelung  steckt ein bösartiger Klassifikationsgedanke.

Der „vertriebene“ Mensch erleidet ein Schicksal; er ist passiv, wird getrieben und zur Flucht gezwungen. Anders ist die Situation eines  „flüchtenden“ Menschen. Er wird als aktiv handelnde Figur charakterisiert; er entscheidet sich aktiv dafür, die Heimat aufzugeben, um in einem Gastland ein besseres Leben zu beginnen.

Perverserweise sprechen bayerische Politiker hier von  „Asyl-Tourismus“. Dabei hätten gerade  die Bayern allen Grund, ehrlich und dankbar zu sein. Der größte Teil  der Vertriebenen aus Schlesien und aus dem Sudetenland landete nach dem Krieg in Bayern. Dadurch entstanden ganz neue Industrie-Ansiedlungen.

Der Paradefall ist die Schmuck-und Glasindustrie in Neugablonz. In Bayern gibt es eine ganze Anzahl neu gegründeter Vertriebenenorte. Es ist eine heute allgemein akzeptierte Meinung, dass der Wirtschaftsaufschwung im Nachkriegsbayern  zum großen Teil den Vertriebenen zu verdanken ist. Ohne die Initiative, die Motivation und das Knowhow dieser Leute wäre Bayern wahrscheinlich noch immer eine Agrarregion.

Zum oben benutzten Begriff „Gastland“ noch ein Wort. Der Begriff taucht auch in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von Immanuel  Kant  auf. Der Autor behandelt in diesem Text die Bedingungen dafür, einen stabilen Frieden zu schaffen und zu sichern. In einem Hauptpunkt geht es um die Bedeutung der Freizügigkeit. Kant betont, dass die Forderung nach totaler Freizügigkeit nicht friedensförderlich ist. Er unterscheidet zwischen Gastrecht und Besuchsrecht.

Das Besuchsrecht wird ohne Wenn und Aber akzeptiert. Jeder Mensch hat also Anspruch auf das Besuchsrecht; man kann beliebig ausgewählte Gruppen an der Grenze nicht zurückschicken. Für das permanente Gastrecht gilt dieser Anspruch aber nicht; der permanente Aufenthalt ist damit beschränkt. Die Unterscheidung wird begründet.

Wenn die Kanzlerin im Jahr 2015 diese Argumentationskette gekannt hätte, wäre sie bei ihren Entscheidungen vorsichtiger gewesen. Selbst bei Kenntnis dieses Textes würden bayerische Politiker heute nicht anders argumentieren als früher.

Warum das? Das intellektuelle Niveau dieser Leute  reicht ganz offensichtlich nicht aus, derartige Texte zu verstehen.

Hellmuth Milde, Trier (Finanzwissenschaftler, in Schlesien geboren, von 1990 bis 2006 Professor an der Universität Trier)

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