Die geklauten Buchstaben

Heißa, machte das Spaß, sich im Wörtermeer zu tummeln. Den ABC-Fischen bereitete das großes Vergnügen.

Gab es einen schöneren Zeitvertreib, als mit dem Alphabet zu spielen? Wörter zu bilden. Ein Klacks, wenn man das ABC kannte. Denn im Wörtermeer wimmelte es nur so vor Buchstaben, die sich zu gerne in Wörter verwandelten. So Wörter wie Schlotter-Otter oder Milchzahnmüsli oder Zankapfelkompott oder oder oder. Tag für Tag vermehrten sie sich, und das Wörtermeer wuchs und wuchs. Bis der Wind sie auf seinen Rücken packte und über die sieben Weltmeere hinaus in die Welt trug bis hin zu den Menschen, die daraus Bücher druckten.
Alles hätte so friedlich sein können, wäre da nicht der Afrikanische Feuerfisch gewesen, der neuerdings Buchstaben sammelte wie andere Leute Briefmarken. Für ihn war das Wörtermeer ein gefundenes Fressen. Obwohl das Wörtermeer streng von den Neunaugen bewacht wurde, hatte er zugeschlagen und dem Alphabet etliche Buchstaben geklaut. Darunter das A, das E, das L, das M und das O. Seitdem fehlte dem Alphabet die Kraft, neue Wörter zu bilden.
Die lustige und aufgeräumte Stimmung im Wörtermeer drohte zu kippen. Unbehagen machte sich breit. Und das so kurz vor Schulbeginn. Die Nachricht über die fehlenden Buchstaben hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Frau Seezunge, die Lehrerin, klagte: "Wie soll ich den Kleinen nun das Lesen und Schreiben beibringen, damit sie sich auch im Wörtermeer vergnügen können? Wie sollen ohne diese Buchstaben neue Wörter entstehen? Nicht auszudenken, was das für Folgen haben könnte." Und die Jungfische, die erst ab der Einschulung ins Wörtermeer durften, ließen die Flossen hängen. Lernten sie nun womöglich weder lesen noch schreiben?
Guter Rat war teuer und Eile geboten. Dem Afrikanischen Feuerfisch mussten die gestohlenen Buchstaben abgejagt werden? Die Verfolgung sollten die Seeteufel übernehmen. Maja, eine Meeresschildkröte und Freundin der ABC-Fische, erklärte den Seeteufel den Weg durch die Meere. Los ging's. Von den Seepferdchen wurden sie ein Stück des Wegs begleitet. Unterwegs auf einer abenteuerlicher Reise. Wem sie alles begegneten! Krokodilen, Drachenfischen, Rochen und vielen, vielen mehr. Vor den Haien mussten sie sich in Acht nehmen. Wohlgesonnen waren ihn die Delfine, mit denen sie sich anfreundeten. Lustige Tiere, die gern Späße machten. Um ein Haar wären sie den Schlangenkopffischen in die Flossen gefallen. Wie gut, dass ihnen ein Schwarm Sägefische in allerletzter Minute zu Hilfe geeilt war. Sie durchquerten Süß- und Salzwassermeere, staunten über bunte Korallenbänke und tranken Milch der Seekühe.
Endlich näherten sie sich dem Afrikanischen Meer, dem Zuhause des Feuerfisches. Hier war es stockdunkel. Die Lampenfische leuchteten ihnen den Weg bis hin zur Unterseehöhle, wo der Feuerfisch hauste. In Begleitung der Lampenfischen wagten sie sich vorsichtig in die Höhle, beständig auf der Hut vor dem gefährlichen Feuerfisch. Ufff, dann großes Aufatmen. Der Afrikanische Feuerfisch schien wohl ausgeflogen … äh ausgeschwommen. Rasch befreiten sie die Buchstaben aus dem engen Gefängnis und schwammen in Windeseile zurück ins Wörtermeer. Den befreiten Buchstaben wurde dort ein großer Empfang bereitet. Das Alphabet schlug Purzelbäume vor Freude. Frau Seezunge vergoss Tränen der Erleichterung. Und für die ABC-Schützen an ihrem ersten Schultag erfüllte sich ein großer Traum. Endlich die Bekanntschaft mit dem Alphabet zu machen. Und zwar von A bis Z.
Übrigens: Gleich neben dem Wörtermeer liegt das Zahlenmeer.

Katharina Britzen hat die Geschichte und das nebenstehende Gedicht für ihren Enkel Julius geschrieben, der in diesem Jahr eingeschult wird.

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