Die Macht der kleinen Worte

"Sprache ist etwas, das lebt," fügte eine liebe Freundin ganz beiläufig in ein Gespräch ein, das ich vor einigen Wochen mit ihr führte. Dieser kurze, treffende Satz prägte sich fest in mein Gedächtnis ein.

"Und wie!" möchte ich so oft hinzufügen. Solange ich moderne Intelligenz wie Laptop, oder fast schon altmodische, wie mein Fremdwörterbuch nicht ständig bemühen muss, um den Gedankengängen meiner jeweiligen Informationsquelle halbwegs folgen zu können, habe ich nichts gegen sinnvollen, behutsamen, nachvollziehbaren und maßvollen Wandel in meiner Sprache. Aber es sind durchaus keine Begriffe aus fremden Kulturen, die mir dabei spontan in den Sinn kommen.
"Unverhofft kommt oft!" heißt es im Volksmund. Und das konnte ich bestätigen, als ich gerade einmal vierzehneinhalb Jahre alt war. Ich sehe deutlich die Erinnerung zurückkehren, als ich damals den kleinen Verkaufsraum einer Klempnerei in Saarburg betrat. Die Türglocke schellte. Ich trug einen dunklen Mantel und hatte mir wenige Wochen zuvor endlich die kindlichen Zöpfe abschneiden lassen dürfen. Ein Firmenmitarbeiter im grauen Kittel begrüßte mich freundlich und fragte: "Sie möchten sicher die bestellten Beschläge abholen?" Ja, so lautete mein Auftrag. Aber fast hätte ich vergessen, meinen Abholschein vorzulegen. "Sie" hatte er gesagt, der erste Mensch, der mir völlig unerwartet diese Ehre zukommen ließ. Mein plötzlich hochrotes Gesicht bemerkte er wohl nicht und legte mir Ware und Wechselgeld für meinen Schein auf die rustikale Holztheke. Ich schnappte mir die kleine Papiertüte und wollte bereits nach der Türklinke greifen, als er mir sagte: "Sie haben ihr Wechselgeld vergessen!" Da war er wieder, dieser aufwertende Unterschied zwischen dem gewohnten "Du" meiner Kindheit und dem Aufstieg zum "Sie" des Jungmädchenalters.
Erst der kalte Winterwind auf dem Heimweg gab mir langsam meine Winterblässe zurück. Nach und nach wurde die winzige, aber dennoch entscheidende Veränderung, mit der ich angesprochen wurde, zur Selbstverständlichkeit. Endlich war die Zeit vorbei, in der ich einmal in einer Warteschlange zur Seite gedrängt worden war mit der Begründung: "Dat hat scheen Zeet!"
Etliche Jahre später genoss ich mit meiner Familie unsern ersten Urlaub in Österreich. Bereits der Anblick aus dem Tal hoch zu den majestätischen Bergketten war bezaubernd schön und weckte rasch den Wunsch, in höhere Gefilde hinaufzusteigen. Allerdings wollten wir den Kindern einen anstrengenden Gewaltmarsch damals noch ersparen (und ich ihn mir auch). Deshalb brachte uns ein bequemer Sessellift den gigantischen Häuptern der grauen Riesen ein gutes Stück näher. Von der Mittelstation führte ein einladender Pfad zur nächsten Almhütte. Dort duftete es um die Mittagszeit nach Erbsensuppe und Kaiserschmarren. Geduldig reihten wir uns in die Schlange der hungrigen Wanderer ein. Mein Mann und die Kinder waren bereits versorgt, als der freundliche Almwirt meine Bestellung entgegennahm und mich laut und deutlich fragte: " Wills d noch a Semmel zu dera Suppen?" Das "Du" in seiner Sprache war unverkennbar. "Gerne!" erwiderte ich überrascht.
Ein mir völlig fremder Mensch gab mir damit das Gefühl, hier oben einfach dazu zu gehören, ohne wenn und aber. Und das tat gut. Der Abstieg ging meinen ungeübten Knien ziemlich nahe, den Kindern erstaunlicherweise weit weniger. Am Abend erwähnte ich in unserer Pension die sympathische Anrede des Almwirts. "Ha, des passt scho," lautete die spontane Erklärung unserer Wirtin, "herobn in die Berg ist des a ungschriebnes Gsetz. Dao gibt's koa "Sie". Nachdem ich todmüde ins Bett gefallen war, schickte ich dem Schöpfer noch eine kleine Botschaft: "Lieber Gott, ich danke dir für den schönen Tag!" Und bereits im Halbschlaf dachte ich noch schmunzelnd, wie sonderbar es geklungen hätte, wenn ich - aus höchstem Respekt - meine Wortwahl geändert hätte: " Ich danke Ihnen für diesen Tag!" Und sein Hinweis lautete dann ähnlich wie jener, der in den Bergen gilt: " Hier oben gibt's kein "Sie!" Du kannst mich getrost mit dem vertrauten "Du" ansprechen."

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