Die schöne Margerite

Der Herr und die Dame des Hauses hatten einen schönen Garten rund um das Haus. Was da nicht alles wuchs: Bäume, Sträucher, Büsche und viele, viele Blumen.

Ganz viele Margeriten, zu denen auch ich gehöre, standen vor dem Haus, hinter dem Haus, überall im Garten. Da wir für unsere Schönheit sehr viel flüssige Nahrung brauchen, pflegte unser Herr uns Blumen besonders. Jeden Abend und auch schon mal morgens bekamen wir unser Kännchen Wasser. Eine Wonne, sage ich euch, so etwas Köstliches!
Hat unser Herr uns mal vergessen, so schaute die Dame des Hauses auch nach uns, denn sie liebt uns Blumen sehr. Immer bewunderte sie uns. Und ließen wir mal traurig unsere Köpfchen hängen, weil wir gar zu viel Durst hatten, dann rief die Dame unseren Herrn, den sie liebevoll "Carlos" nannte, und gleich bekamen wir ein extra Kännchen Wasser. Wir merkten dann sofort, wie unsere Stiele wieder kräftiger wurden, unsere Köpfchen sich wieder aufrichteten, und wir schauten wieder geradewegs zum Himmel empor, wo die Sonne uns anstrahlte. Aber - wer strahlte wohl mehr, die Sonne oder wir, weil wir wieder gut versorgt wurden.
Eines Tages, es war im Juli, ich weiß das ganz genau, weil wir in dieser Zeit unsere Blütenpracht besonders schön entfalten, wurde es sehr, sehr heiß. Carlos, der Herr des Hauses, hatte sehr viel im Garten zu tun. Aus allen Ecken des Gartens hörte man Wehklagen. "Oh, diese Hitze", stöhnten unsere Nachbarn, die gelben Margeriten. "Es ist nicht zum Aushalten", riefen die Dahlien, die bei dem besonders warmen Sommer schon sehr früh ihre Blütenpracht zeigen wollten. "Wasser", riefen die Tomaten im kleinen Gemüsegarten. Eine große Sonnenblume, die ganz hochnäsig auf uns herabgeschaut hatte, konnte nur noch ganz leise sagen: "Ich kann nicht mehr, meine Blütenblätter können sich nicht mehr hochhalten, ich kann keine strahlende Sonnenblume mehr sein. Ich bin ja so traurig". Auch sie bekam eine extra Kanne Wasser. Es half nicht mehr viel, denn die Hitze hatte ihr schon zu sehr geschadet. Sie neigte ihren großen Strahlenkopf der Erde entgegen, und immer mehr und mehr verlor er an Glanz. Bis eines Morgens die Blütenblätter abfielen. Sie lebte zwar noch weiter, doch nur, um die Kerne, die in ihrem Herzen sitzen, weiter reifen zu lassen.
Einmal hörten wir Blumen, wie die Dame zu Carlos sagte: "Es kommt Besuch, wir brauchen ein paar schöne Blumen fürs Zimmer". Wir Blumen steckten unsere Köpfe zusammen und fragten uns, wer von uns das Zimmer wohl schmücken darf.
"Ich", rief die rote Dahlie, "ich schaue doch so schön aus!" "Ich möchte auch nicht übersehen werden", rief eine Ringelblume. "Ihr habt doch gar keine Chance", sagte eine rote Rose, "ich bin doch die Königin der Blumen". Aber weit gefehlt, wie sich später herausstellte.
Wir Margeritenblumen waren bescheiden und ganz schön still, weil die anderen Blumen unbedingt gepflückt werden wollten. Ich sage euch, die Dame ging an allen Blumen vorbei und blieb vor uns Margeriten stehen. Und tatsächlich: Die Dame schaute uns sehr prüfend an und dann - ich konnte es nicht fassen - sie hat mich ausgewählt. Mich, eine unter vielen Margeritenblumen! Als sie mich abpflückte tat es ja ein bisschen weh, aber was ist das schon für so viel Ehre. Jetzt brauche ich nicht mehr in der Gartenerde zu stehen. Du meine Güte, ich kann es nicht fassen. Ich bekam ein ganz schönes Gefäß, die Dame nannte es "Vase", und stellte mich da hinein. Ich dachte nur noch, dass ich nun nie mehr Durst leiden muss. Sie stellte mich ans Fenster, so dass ich meine Schwestern im Garten sehen konnte. Mein Gott, war ich glücklich.
Als zwei bis drei Tage vergangen waren, wurde mir so komisch, ich fühlte mich plötzlich nicht mehr so gut wie im Garten. Jeden Tag fühlte ich mich etwas kraftloser und schaute mit letzter Kraft nach meinen Schwestern im Garten. Prächtig standen sie noch da. Ich aber hatte vor lauter Glück nicht daran gedacht, dass ich als Auserwählte viel, viel früher verwelken muss.

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