Ein Dorf zieht aus

Eine utopische Kurzgeschichte über die Energiewende und ihre Folgen.

Es herrschte ein geschäftiges Treiben an jenem Montagmorgen in einem kleinen Eifeldorf, wo Felder sich im Winde wiegen und Rotorflügel durch die Lüfte fliegen. Fast vor jedem Haus parkte ein Umzugswagen oder ein Traktor mit zweckdienlichem Anhänger. Sogar Pferdefuhrwerke wurden wieder gesichtet. 90-Jährige koordinierten die Aktionen an ihrem Rollatorkontrollstand, denn die Gilzemer Bevölkerung war auf der Flucht vor der gefräßigen Windkraftindustrie.
Doch plötzlich, um die zehnte Stunde, unterbrach ein dumpfer Knall diese hektische Betriebsamkeit, und als die unvermeidliche Staubwolke sich endlich gelegt, beziehungsweise verzogen hatte, erahnte man die Ursache: Das Dorfgemeinschaftshaus, in das in den letzten Jahrzehnten so viel Geld und Herzblut gesteckt wurde, war einigermaßen kontrolliert gesprengt worden. Bulldozer schoben den entstandenen Schutt und den der übrigen Häuser bergab, um damit das Tal der Ehligenbach aufzufüllen.
Wir schreiben den 1. Juli 2019. Noch 183 Tage bis zum Zieljahr 2020 der bundesweiten Energiewende. Und es fehlen noch sage und schreibe exakt 3047 Windkraftanlagen in Deutschland! Händeringend wird nach Standorten gesucht, die Gilzemer Bevölkerung ist in Aufruhr, und die Dauerbundeskanzlerin gerät zunehmend ins Schwitzen. Aber, war es eine Fügung Gottes? In ihrer Verzweiflung fiel ihr ein alter Bittbrief aus dem Jahre 2016 in die Hände, verfasst von der hiesigen Bürgermeisterin.Und da stand sinngemäß:
"Liebe Bundeskanzlerin. Kennen Sie den Film "Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe" mit Louis de Funes? Wo zwei (angeblich) sturköpfige Greise schließlich in einem Käfig beziehungseise Gehege wohnen, inmitten eines Freizeitparks? Genauso fühlen wir uns, eingekesselt im Eisenach-Idesheim-Meckel-Kaschenbacher Gemeinschaftswindpark. Könnte nicht - wie im Film - eine große Untertasse Gilzem samt riesigem Erdballen hochheben und an eine andere Stelle verfrachten?"
Frau Merkel griff diese utopische Idee auf, Gilzem wurde auf den renaturierten Eisenacher Steinbruch umgesiedelt, wo nur noch eine, durch Bürgerproteste stillgelegte, Steinbrecheranlage vor sich hinrostete. So konnte der Windanlagengürtel um das alte Gilzem immer enger geschnürt werden, bis dem Dorf keine Luft mehr zum Atmen blieb und es pulverisiert wurde.
Die Straßen blieben größtenteils erhalten und erwiesen sich bei den notwendigen Schwertransporten als ganz nützlich,wobei natürlich einige enge Kurven (Friedhof, Fröscheloch) großzügig entschärft werden mußten.
Und ganz langsam wich das alte Gilzem einem fruchtbaren, (geld-)segensreichen Spargelfeld.
Die Eisenacher Bevölkerung empfing die Gilzemer Neuankömmlinge mit offenen Armen: Endlich wieder ein Geschäft! Und eine Fulltime-Gaststätte mit automatischer Kegelbahn!
Ja, und wenn einem so viel Freude wird beschert, dann ist es das Begraben des Kriegsbeils wert.

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