Ein Prinz zu Besuch bei den Schlottmanns - Teil 2

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann, Papa Schlottmann, Amelie Schlottmann, Franziska Schlottmann, Thomas Schlottmann, Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann.

Das Festessen bei den Schlottmanns mit den Berhans - die aus der Ferne, die mit der kleinen Mahta auf dem Arm, die mit Aron, von dem Thomas und Klein- Heinz gehört hatten, er sei ein Prinz - wurde zu einer ausgelassenen Feier mit viel Gelächter und Gesprächen über die so grundverschiedenen Tischgewohnheiten und Gebräuche - nachdem das erste Eis gebrochen war und alle mit Oma respektvoll über ihre "Rumpeln" gelacht hatten. Nur Oma selbst, die aß fast nichts und streichelte gedankenverloren Klein-Heinz, bis dieser genug hatte und von ihrem Schoß hüpfte.
Alle blickten auf - kleine Tränen liefen über Omas Rumpelgesicht. "Ich gehe wohl besser wieder", sagte sie.
"Du sein traurig?" Herr Berhan sah sie ernst an.
"Ach ja, wissen Sie, heute ist der Todestag meines Mannes. Der dritte. Eigentlich dachte ich immer, es würde mit der Zeit besser werden, die Zeit heilt ja bekanntlich alle Wunden. Aber so ist es nicht. Es wird immer schlimmer. Alles ist Mist."
Herr Berhan schüttelte den Kopf: "Oh nein. Du hast gut. Du hast essen, trinken, darfst beten und tanzen, wie du willst. Du hast gute Familie. Leben ist großes Geschenk."
Oma schaute ihn an. "Ich verstehe, was Sie sagen, aber ich fühle es nicht. Ich denke immer an meinen Mann. Ich vermisse ihn in jedem Moment. Wie eine Biene schwirrt er in meinem Kopf herum, der Gedanke, dass mein Mann nicht mehr da ist."
Herr Berhan nickte und stand auf. Alle schauten ihn erstaunt an. "Ich brauche schneidendes Messer", sagte er zu Mama.
Mama erschrak. Warum brauchte ihr Gast ein scharfes Messer, denn das war es ja wohl, was er wollte?
"Keine Furcht. Tut nicht schlimm."
Mama zögerte, doch nun war Thomas hellwach. Jetzt schien es spannend zu werden, er sprang auf, lief in die Küche und brachte das kleine Messer, mit dem sie immer das Gemüse schälten.
"Und ich brauche Schüssel," worauf Thomas wieder in die Küche lief und mit Papas Müslischale zurückkam: "Ist die groß genug?" Herr Berhan nickte feierlich und trat zu Oma, die ihn mit großen Augen anstarrte.
"Keine Furcht. Tut nicht schlimm."
Oma blieb misstrauisch. Ein großer, dunkelhäutiger Mann stand da vor ihr, mit einem scharfen Messer in der Hand.
"Oma, sei stolz auf deine Rumpeln", rief Franziska. Thomas hatte keine Ahnung, warum sie das sagte, aber sie wollte Oma wohl Mut machen und bestimmt wollte auch sie sehen, was Herr Berhan mit Oma denn eigentlich vorhatte.
Der nahm Omas Arm ganz vorsichtig in seine Hand, als sei der Arm unendlich kostbar und sehr wertvoll, aber dann schnitt er mit dem Messer plötzlich in Omas dünne Pergamenthaut, ein klein wenig nur, aber er schnitt wirklich und wahrhaftig in Omas Haut. Einige kleine Tropfen Blut flossen. Alles war ganz still. Thomas staunte und spürte Klein-Heinz' gelb lackierte Fingernägel, wie sie ihn in den Arm pitschten.
"Ich muss jetzt tun." Mit diesen Worten beugte sich Herr Berhan über den kleinen Einschnitt , setzte seine Lippen auf Omas Wunde und spuckte dann in die Müslischale.
Thomas verzog das Gesicht: "Ih", er schüttelte sich, "das ist gruselig. Ich esse da nix mehr draus."
Aber Herr Berhan kümmerte sich nicht um ihn, sondern hielt Oma die Schale hin. Und es war kaum zu glauben, aber außer der rosa Spucke aus Herr Berhans Mund war da noch eine Biene in der Müslischale, und die Biene zappelte in der Spucke. In dem Gemisch aus Omas Blut und der Spucke schwamm eine Biene!
"Da ist Biene aus deinem Kopf." Der fremde Gast lächelte.
"Also so was", Oma schaute immer wieder in die Schale und dann zurück zu Herrn Berhan und dann wieder in die Schale.
"Sowas gibt es doch gar nicht", rief sie schließlich. "Die Biene ist nicht aus meinem Kopf. Die haben sie gefangen, die war in ihrer Hand."
Herr Berhan schüttelte den Kopf.
"Ist egal, wo Biene her. Wichtig ist, dass du sie tötest."
Er hielt Oma abermals die Schüssel hin und Oma nahm sie in ihre Hände. Sie zögerte. Dann stand sie auf und öffnete die Terrassentür. Herr Berhan ahnte wohl, was Oma vorhatte, denn er machte eine Bewegung, um ihr die Schüssel wieder wegzunehmen, aber dann ließ er doch zu, dass Oma die nasse Biene auf den Boden kippte, mit dem, was sonst noch in der Schüssel war, und alle schauten zu, wie das kleine Tier dann ein wenig hin und her lief, sich schüttelte und putzte und schließlich davonflog.
"Ich mag Bienen", sagte Oma und schaute Herrn Berhan freundlich an.
"Vielleicht ist meine Trauer jetzt nicht tot, vielleicht fliegt sie mit der Biene in die Welt. Aber so ist das dann."
Herr Berhan nickte, "Du musst wissen."
Na ja. Aber vielleicht war die Trauer jetzt nicht mehr in Omas Kopf, dachte Thomas.
Papa Schlottmann atmete tief durch und setzte sich an den Tisch.
"Amelie, ich brauche jetzt mal ein Bier, geh mal in den Keller ein paar Flaschen holen. Und Franziska, für euch Kinder gibt es Limonade."
Die Getränke wurden verteilt, Papa Schlottmann genoss sein Bier schweigend in einigen großen Schlucken und prostete Herrn Berhan zu, ja sogar Oma trank mit, Bier mit Limonade gemischt. Frau Berhan schaute sich derweil die Fotos an, die auf dem Wohnzimmerschrank standen und alle Schlottmanns und ihre Verwandten zeigten.
"Du haben schöne Familie." Sie nickte Papa Schlottmann zu. Dann zeigte sie auf das Hochzeitsphoto vom "großen Heinz" und von Sebastian.
"Das sein Bruder?", fragte sie. Papa sah dem "großen Heinz" wirklich ähnlich.
"Ja, das sind mein Bruder und sein Mann."
Frau Berhan schaute irritiert auf Papa: "Du meinen Bruder mit Bruder."
Frau Berhan war eine wirklich junge schöne Frau, vielleicht war sie in ihrem Land doch eine Königin, dachte Thomas, so groß und stolz stand sie da vor den Photos. Aber man konnte sehen, dass sie gerade viel nachdenken musste.
"Nein, das ist Papas Bruder", sagte Thomas und zeigte auf den "großen Heinz". "Und das", und jetzt zeigte er auf Sebastian, "das ist der Mann von Papas Bruder. Genauso, wie du die Frau bist von deinem Mann."
Jetzt zeigte er auf Frau und Herrn Berhan, als seien sie auch ein Photo.
Herr Berhan schüttelte den Kopf. Er seufzte.
"In Deutschland man darf alles. Hier ist frei."
Es war spät, als die Gäste sich verabschiedeten, die kleine Mahta war fest auf dem Arm ihres Papas am schlafen.
"Kommen sie bald wieder", winkte Franziska hinter ihnen her, und die neuen Freunde winkten zurück.
Thomas nahm Klein-Heinz an der Hand und ging mit ihm ins Bett. Gerade noch so schafften sie es, sich die Zähne zu putzen, es war ein langer Abend gewesen. Klein-Heinz schlief wahrscheinlich schon, bevor sein Kopf das Kissen berührte. Da schaute Amelie noch einmal herein.
"Gute Nacht, Prinz Thomas, gute Nacht, Prinz Klein-Heinz", flüsterte sie.
"Prinz Klein-Heinz" klingt komisch, dachte Thomas und schlief im selben Moment ein.

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