Eindringlich in jedem Detail

Luxemburg · Es ist ein erstaunlich vielschichtiger und klischeefreier Tschaikowsky in der Luxemburger Philharmonie gewesen - hochsensibel bei Evgeny Kissin im b-Moll-Klavierkonzert, ungeschönt und gradlinig beim Londoner Philharmonia Orchestra unter Vladimir Ashkenazy in der Vierten.

 Ein Meister auf dem Klavier, aber kein Tastenlöwe: der russische Pianist Evgeny Kissin, Jahrgang 1971, in der Luxemburger Philharmonie. Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Ein Meister auf dem Klavier, aber kein Tastenlöwe: der russische Pianist Evgeny Kissin, Jahrgang 1971, in der Luxemburger Philharmonie. Foto: Philharmonie/Sébastien Grébille

Luxemburg. Vielleicht offenbart sich künstlerische Größe gerade in der Miniatur. Wenn Evgeny Kissin nach den Klangkaskaden im Kopfsatz von Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert zum "Andante simplice" ansetzt, dann schwingt darin etwas von "zweiter Naivität" mit - Einfachheit aus tiefem Verstehen.
Der russische Pianist, der eben noch vollgriffig auf der Tastatur brillierte, beleuchtet alle Details, formuliert die Triller sorgfältig aus und breitet um sein Musizieren eine zarte, helle Aura aus. Die schlägt im "Prestissimo"-Mittelteil um in leichthändige Virtuosität mit planvoll skurrilen Beiklängen.
Kissin ist Meister auf dem Klavier, aber kein Tastenlöwe. Selbstverständlich beherrscht er die Akkordballungen der Introduktion und die Passagen in den Kadenzen. Doch seine Größe liegt in der Detail-Sensibilität. Unter seinen Händen gewinnt jede Einzelheit Gestalt und emotionalen Gehalt. Und das Londoner Philharmonia Orchestra unter Vladimir Ashkenazy nimmt den Solisten ganz in seine Mitte. Es ist nicht nur Begleiten, noch nicht einmal nur Dialog, sondern ein sensibles, hellhöriges Miteinander.
Und das, obwohl sich die künstlerischen Konzepte nicht unbedingt decken. Ashkenazy setzt andere Interpretations-Schwerpunkte. Sein Tschaikowsky ist auf weite Strecken ungeschönt, gradlinig, offensiv, teils sogar von aggressiver Härte und weit weg von aller romantisch-versöhnlichen Mäßigung.
Musik steht unter Hochspannung


Die sinfonische Ballade "Der Wojewode" dirigiert er noch in den Eröffnungsbeifall hinein, fordert das Orchester bis an seine Grenzen, setzt die Musik unter Hochspannung. Und das ziemlich plakative "Schicksalsmotto", das die 4. Sinfonie des russischen Komponisten durchzieht, es ruht nicht vollklingend in sich, sondern drängt nach vorne, treibt den sinfonischen Prozess weiter. Nur selten einmal schwingt diese Sinfonie bei Ashkenazy gelassen aus. Und im problematischen Finale lässt sich der Dirigent gar nicht auf den Versuch ein, die Schwächen der melodischen Erfindung zu verdecken. Er treibt die Musik zu lautstarken Höhepunkten. Spätestens da zeigt sich die Klasse des Orchesters. Das musiziert mit einer Präzision und Energie, die alle Plattheiten der Komposition vergessen macht. Grund genug für heftige Begeisterung unter den knapp 1400 Besuchern. mö

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