Flieg, Draco! Flieg!

Wir sitzen alle in einem Boot. Der Steuermann hat die Plätze verteilt und entschieden, wer in der vordersten Reihe, dem Schlag, paddelt.

Das Gewicht ist austariert, das Boot liegt gut im Wasser. Der strahlend blaue Himmel, der sich zu Beginn des Rennens über das Flusstal spannte, ist unter einer dicken Wolkendecke verschwunden. Nieselregen hat eingesetzt. Lockeres Paddeln zum Aufwärmen und dann geht es an den Start. Fünf Drachenboote haben sich nebeneinander aufgereiht. Wir konnten uns für dieses letzte, entscheidende Rennen qualifizieren. Das ist mehr, als wir zu hoffen gewagt hatten.
Der Drache erwacht zum Leben



Über Megafon erteilt der Starter Anweisungen: "Boot 2, drei Schläge vor! Boot 3", das sind wir, "zwei Schläge zurück!" Nervös peitscht unser Drache seinen gezackten Schwanz durchs Wasser. Ruhig Drache, ruhig! Nach der langen Winterpause ist Draco heute endlich wieder zum Leben erwacht und schnuppert Wettkampfluft. Es wird still in den Booten. Volle Konzentration! Die Startphase ist enorm wichtig. Es kann sein, dass in diesen wenigen Sekunden bereits das Rennen entschieden wird. Unzählige Male haben wir den Start in den letzten Wochen geübt, fünf kräftige Schläge, zehn kurze und dann die Streckenschläge, lang, lang, ...
Alle warten auf den Startschuss! Das Signal des Starters ertönt: "Are you ready? Attention ... PENG!!!" Hundert Stechpaddel tauchen tief ins trübe Flusswasser, ziehen mit Anriss druckvoll durch, um in weniger als einer Sekunde wieder einzutauchen. Zack! Zack! Zack! Jede Mannschaft versucht ihr zentnerschweres Boot in Bewegung zu setzen, sich dem Gesetz der Trägheit entgegen zu stemmen.
Die Trommlerin schlägt den Takt und feuert uns an, brüllt aus vollem Hals: "Eins, zwei, drei, vier, ... Weiter so! Strengt euch an!" Der Steuermann steht hinten im Boot, das Langruder fest in der Hand und seine Mannschaft im Blick. Boot Nummer 2, zur Rechten, die Mannschaft in den leuchtend blauen T-Shirts, bricht aus, warum auch immer, und kommt uns gefährlich nahe. Kurzes Touchieren der Paddel, dann gelingt es unserem Steuermann uns aus der Gefahrenzone zu lotsen. Weiter geht\'s mit langen kräftigen Schlägen. Boot 4, ein rotes Boot mit schwarzer Flagge am Heck, schiebt sich an uns vorbei, Meter um Meter. Boot 2 hat seinen Rhythmus noch nicht wieder gefunden und fällt zurück. "Weiter so! Boot liegt gut!", ruft der Steuermann.
Pulsierende Energie


In absoluter Übereinstimmung tauchen die Paddel ins aufgewühlte Wasser. Im Bauch des Drachen pulsiert die Energie und die Kraft der zwanzig Paddler, die zu einer Einheit verschmelzen und das Boot vorantreiben, verbunden durch den Willen gemeinsam zu siegen. "Lang! Lang!" schreit die Trommlerin. Es ist wichtig, dass sich der Abstand zu Boot 4 nicht vergrößert. Das monotone Bumm, Bumm der Trommel gibt die Schlagzahl der ersten beiden Paddler vorn im Boot weiter. Die Mannschaft keucht, die Arme erlahmen, "Reißt euch zusammen", brüllt die Trommlerin. "Die kriegen wir!" Wir liegen gleichauf mit Boot 1, doch das erkennt nur der Steuermann. Die Mannschaft schaut weder rechts noch links, sie paddelt was das Zeug hält. Der zweite Platz scheint sicher, wenn wir nicht einbrechen und die Schlagzahl halten können. Die Trommlerin schreit sich die Seele aus dem Leib. "Zieh! Zieh! Lang! Lang! Nicht nachlassen!"
Der Himmel öffnet seine Schleusen


Der Himmel hat seine Schleusen geöffnet, aber das ist egal. Klatschnass sind wir sowieso. Wir kämpfen weiter, mobilisieren die letzten Reserven. Jetzt ist nur noch das rote Boot vor uns, dessen schwarze Flagge am Heck, verdammt noch mal, nicht näher kommt. Wir erhöhen die Schlagzahl. Draco mag es nicht hinterherzupaddeln, und folgt zornig dem roten Boot, auf dessen schwarzer Flagge am Heck ein leuchtend rot-oranger Drache uns hämisch angrinst. "Flieg, Draco! Flieg!" Schnaubend setzt er nach und seine Wut lässt den Bauch des Bootes vibrieren. Wir kämpfen uns heran, Zentimeter um Zentimeter. Die schwarze Flagge ist fast zum Greifen nahe, als wir das Ziel erreichen. Wir schaffen es!
Ein lautes Hupen reißt uns aus unserer Euphorie. Das rote Boot hat die Lichtschranke am Zieleinlauf passiert. Sekunden später verkündet die Hupe, dass auch unser Boot das Ziel erreicht hat. Die immense Anspannung fällt ab, durchschnaufen, die steifen Muskeln lockern. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitet sich aus. Die Mannschaft jubelt. Wir sind hocherfreut über unseren zweiten Platz und jeder in der Mannschaft ist stolz, dass er seinen "inneren Schweinehund" während des Rennens niedergekämpft und nicht aufgegeben hat.
Der Steuermann wendet das Boot. Langsames Paddeln zum Steg. Wir legen an und booten aus. Unsere Trommlerin steigt von ihrem erhöhten Sitz am Bug des Drachenbootes. Etwas steifbeinig steht sie auf dem hölzernen Steg, strahlt uns an und fragt mit heiser krächzender Stimme. "Und? War ich gut oder war ich gut?" - "Du warst klasse!!!" Erschöpft und vergnügt klatschen wir ab und gehen triefnass mit unseren Paddeln in der Hand die Uferböschung hinauf. Ob es Flusswasser oder Regenwasser ist, das aus unseren Kleidern tropft, interessiert niemanden. Wir sind stolz auf unseren zweiten Platz!
An der Uferpromenade bleiben wir stehen und warten auf unseren Steuermann, der unseren Draco noch an die Leine legen muss. Der Steuermann macht ihn am Steg fest und tätschelt ihm das Maul mit den großen, bedrohlich ausschauenden, spitzen Zähnen. "Na, Draco, hat\'s Spaß gemacht?" Draco zwinkert ihm zu, grinst, schließt die Augen, aber nur solange bis der Tag kommt, an dem es wieder heißt: "Are you ready? Attention ... GO!!!"
Anita Koschorrek-Müller ist Mitglied der Abteilung Drachenboot in der Rudergesellschaft Trier. Weitere Infos zum Drachenboot-sport gibt es unter <%LINK auto="true" href="http://www.drachenboot-trier.de" class="more" text="www.drachenboot-trier.de"%>

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