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Walter Baumgartner aus Konz schreibt zur Volksfreund-Ausgabe vom 24. August: Auf der Titelseite wird über die feiernden Sieger der Deutschland-Rallye (oben) und über schwere Unfälle in der Region berichtet (unten). Wird denn, frage ich mich, nicht wahrgenommen, dass zwischen den beiden Ereignissen ein Zusammenhang besteht? Als ehemaliger Berufsschullehrer habe ich wiederholt miterleben müssen, dass Schüler bei nicht notwendigen Verkehrsunfällen zu Tode kamen oder schwer verletzt wurden.

Weshalb die sehr überflüssige Verherrlichung des Motorsports in unserer Tageszeitung? Lieber Herr Baumgartner, vielen Dank für Ihre Zuschrift. Sie werfen zwei Fragen auf, die jenseits der Debatte zwischen Rallye-Gegnern und Rallye-Befürwortern öfters aufpoppen: 1) Glorifizierung von Ereignissen in den Medien; 2) Nachahmungseffekt durch Berichterstattung. Der Schampus spritzt, zwei Männer freuen sich. So sehen Sieger aus. Motorsport. Muss man nicht mögen. Muss man auch nicht unbedingt auf der Titelseite der Zeitung abbilden. Dafür spricht, dass es der finale Augenblick einer Großveranstaltung ist, die Zigtausende Menschen in der Region tagelang beschäftigt hat. Jubelgesänge auf Piloten oder Autos entdecke ich nicht. Verherrlichung, also: unangemessene Beschönigung, das Negative vertuscht? Nein. Das Schampus-Bild zeigt, was vor der Porta Nigra passiert ist, die nüchternen Zeilen benennen es: glückliche Gewinner. Über Sinn oder Unsinn des Rallye-Sports lässt sich streiten. Die einen begeistern sich dafür, die anderen schimpfen. Dass es womöglich gefährliche Nebenwirkungen gibt, ist in dieser Zeitung nie ausgeblendet, sondern immer wieder thematisiert worden - wie sich das gehört. Seit zweieinhalb Jahrtausenden versuchen Philosophen, das Prinzip der Nachahmung zu erklären (siehe etwa: Aristoteles und seine Theorie der Mimesis). Theater, Kunst, Ideen. Vor gut hundert Jahren haben Soziologen erstmals beschrieben, welche gesellschaftliche Dynamik die Nacheiferei entwickeln kann (zum Beispiel: Biedermeierbürger, die vom Lebensstil des Adels träumen). Und nun? Medienzeitalter. Vorbilder, überall. Auf allen Kanälen. In allen Blättern. An allen Ecken. Vorbilder, an denen sich Menschen orientieren. Vorbilder, deren Trachten und Treiben öffentlich verhandelt wird. Vorbilder, das sind die Schönen und Reichen, die Guten und Edlen. Vorbilder, das sind auch die Bösen und Ekligen, die Fiesen und Gemeinen. Popstars und Päpste. Kicker. Und Killer. Jawohl: Killer. In Hunderten Fällen ist nachgewiesen, dass Terroristen, Bankräuber, Mörder oder Entführer sich die "Anregung" für ihre Verbrechen in den Medien holten. Ende des 19. Jahrhunderts lieferte Jack the Ripper den Londoner Zeitungen eine Schlagzeile nach der nächsten. Er meuchelte Prostituierte, blieb ein Phantom. Es dauerte nicht lange, bis ein Copycat (englisch für Nachahmungstäter) ähnlich wütete wie das Original. Anfällig sind die Irren und Verirrten, die Zukurzgekommenen, die Wichtigtuer. Nach den Anschlägen von 9/11 kochten Meldungen über mysteriöse Todesfälle in den Staaten hoch. Milzbrand! Jetzt auch noch Biowaffen-Terror! Die Nerven lagen blank. Ein dickes Thema, weltweit. Prompt erhielten Dutzende Politiker und Medienmacher Briefe mit verdächtigem weißen Pulver (ein paar tatsächlich mit dem schlimmen Erreger Anthrax, die meisten mit Mehl). Trittbrettfahrer schürten Panik, auch in Deutschland. Echte Verbrechen, fiktive Verbrechen: Wer will, findet Anschauungsunterricht in den Medien. Massenhaft. In Zeitungen, in Hollywoodfilmen. Im Internet, in Büchern. Und irgendeiner kriegt's irgendwann nicht mehr auf die Reihe. Amokläufer, geflasht von Video-Ballerspielen; Drogendealer, fasziniert vom kriminellen Fernseh-Chemielehrer Walter White in der hochgelobten US-Serie Breaking Bad; Finsterlinge, inspiriert vom sonntäglichen Tatort ... Selbstmord aus Liebeskummer: Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (erschienen 1774) ist das früheste bekannte Beispiel für totale Identifikation mit einem literarischen Vorbild. Der Held bringt sich um, weil seine Liebste ihn verschmäht. Angeblich lasen manche junge Männer die Erzählung wie eine Gebrauchsanweisung - und töteten sich selbst. Wissenschaftler bezeichnen das Phänomen als Werther-Effekt. Eine Mahnung, über Suizide, wenn überhaupt, äußerst zurückhaltend zu berichten. Ganz egal, welches Thema, ganz egal, welches Medium: Es ist nicht auszuschließen, dass jemand auf die Idee kommt, das Erzählte nachzuahmen. Eine Welt ohne Vorbilder wäre eine Welt ohne Menschen. Herzliche Grüße! Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur E-Mail: forum@volksfreund.de Mehr Kolumnen im Internet: <%LINK auto="true" href="http://forum.blog.volksfreund.de" class="more" text="forum.blog.volksfreund.de"%>

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