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Ein Wort zum Unwort: "Lügenpresse" tönt es neuerdings in der einen oder anderen Zuschrift an den Volksfreund. Nein, keine Namen, keine Tiraden im O-Ton.

Nur eine Gegenrede. Lieber Herr P., lieber Herr E., lieber Herr G., ... (merkwürdig, ausschließlich Männer ereifern sich über die Lügenpresse), lesen Sie jetzt nicht weiter. Sie wissen eh, dass alles gelogen ist, was in der Zeitung steht. In dieser, in jeder. Alles manipuliert, alles gleichgeschaltet, behaupten Sie. Mainstream-Medien. Systempresse. Lügenpresse. Gesteuert von den Strippenziehern in der Politik und in der Finanzwelt. Pssst! Ich verrate ein Geheimnis. Es stimmt!!! Jeden Morgen um halb zehn kommt die Parole aus dem Kanzleramt. Per Mail, die exakt auflistet, was wir berichten müssen. Und was wir nicht berichten dürfen. Geht an jede Zeitung in Deutschland. Jeden Fernsehsender. Jede Radiostation. Jedes Online-Portal. Jede Nachrichtenagentur. Bisschen später, für Rheinland-Pfalz: die Anweisungen aus der Staatskanzlei in Mainz. Und gegen Mittag (wegen der Zeitverschiebung!) die Ansagen aus dem Weißen Haus in Washington. Setzen wir um, klar. Und bestellen ruckzuck die passenden Leserbriefe ... Mensch, Leute! Die allermeisten deutschen Medien, die allermeisten Journalisten lügen nicht. Sie machen Fehler, sie gewichten Themen falsch, sie vergessen manches, sie jazzen anderes hoch, sie erzählen gelegentlich dummes Zeug, sie sind vielleicht nicht transparent genug. Da ist allerhand zu verbessern, wir arbeiten daran. Ich verwahre mich jedoch gegen das Nazi-Wort Lügenpresse, das die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (kurz: Pegida) in Dresden und anderswo bei ihren Aufmärschen skandieren. Gern mit dem Zusatz: halt die Fresse! Abgesehen davon, dass die vulgäre Vokabel auf der nach unten offenen Proll-Skala mies abschneidet: Von Lügenpresse hat Hitlers Propagandachef Goebbels schwadroniert, um Gegner des NS-Regimes (Kommunisten, Juden, Amerikaner) zu denunzieren und zu diffamieren. Hallo: Hitler! Goebbels! Nazis! Moment mal, wenden Pegida-Freunde ein: Der Kampfbegriff ist doch selbst von Widerstandsgruppen im Dritten Reich verwendet worden. Richtig, als Antwort auf die Diktatur. Und schon früher: im 19. Jahrhundert von katholisch-konservativen Kreisen, um gegen demokratische, aufklärerische Zeitungen zu polemisieren (Lügenpresse, Schandpresse). Oder im Ersten Weltkrieg, um gegen die Lügenpresse und Feindpresse aus Frankreich, Belgien und England zu hetzen. Der Jargon poppte auch nach 1945 immer wieder auf. Während des Kalten Kriegs klebte das Etikett Lügenpresse mal auf BRD-Medien, mal auf DDR-Medien. In den Siebzigern enthüllte Günter Wallraff, wie bei der größten Boulevard-Zeitung des Kontinents gemauschelt wird (Bild lügt). Und so weiter. Katholiken, Monarchisten, Liberale und Reaktionäre haben das Wort ge- oder missbraucht, wieso soll es tabu sein? Weil Lügenpresse maßgeblich zum Hass-Repertoire rechter Radikalinskis gehört. Bis heute. Lügenpresse halt die Fresse! schmierten Neo-Nazis vor drei Jahren in Cottbus an die Fenster der Lausitzer Rundschau (eine Schwesterzeitung des Volksfreunds). Und da wundern sich die Pegiden und ihre Nachahmer, dass sie unter Extremismus-Verdacht geraten?! Sie fürchten den Untergang des Abendlandes, sie sagen, dass sie für die Demokratie demonstrieren - mit Wörtern, die ideologisch vorbelastet und zutiefst antidemokratisch sind. Ein Widerspruch in sich. Wer Lügenpresse grölt, wer Journalisten als Volksschädlinge verunglimpft, wer sich der Blut- und Boden-Metaphorik der Nazis bedient, stellt sich ins Abseits. Das Verblüffende an Verschwörungstheorien ist ja, dass kein Kraut gegen sie gewachsen ist. Weil jedes Argument, das den Humbug entlarvt, als neue Verschwörung umgedeutet wird. So ist das auch mit der Lügenpresse. Wenn ich erkläre, dass wir morgens um halb zehn natürlich keine Mail mit Vorgaben zur Berichterstattung von Frau Merkel erhalten, fühlen sich die Verschwörungstheoretiker bestätigt: Siehste, die Kanzlerin hat angeordnet, er soll schreiben, dass sie nichts anordnet ... Nichts gegen Medienkritik. Im Gegenteil. Es ist wichtig, uns auf Irrtümer hinzuweisen, auf Irrwege, auf Irrsinn. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Meinetwegen schimpfen Sie uns aus, so wie wir das gewohnt sind: Arschloch, satanischer Schmutzhund ... oder, wie dieser Tage ein Leser blaffte: Dies ist der richtige Schlag aufs Maul! Er meinte: gegen den Volksfreund, immerhin mit dem Nachtrag: Rechnen wir einfach diese Unflätigkeit von mir gegen Ihre Unkorrektheiten auf, damit es in Zukunft ziviler und richtiger läuft. Alles kein Problem. Aber verschonen Sie uns bitte mit diesem Unwort Lügenpresse. Herzliche Grüße! Peter Reinhart, stellvertretender Chefredakteur E-Mail: forum@volksfreund.de Mehr Kolumnen im Internet: <%LINK auto="true" href="http://forum.blog.volksfreund.de" class="more" text="forum.blog.volksfreund.de"%>

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