In wirklicher Not

Es war an einem Dienstag, am 23. Januar 1940, dem Gedenktag des Seligen Amadus, als ich geboren wurde. In England wurden Butter, Fleisch und Zucker rationiert, die Westoffensive mit Angriff auf Belgien und Holland begann.

Rotterdam wurde zerstört, Vormarsch auf Frankreich. Japan, Italien und Deutschland unterzeichneten den Dreimächtepakt. Das Fußball-Länderspiel mit Fritz Walter gegen Rumänien wurde 9:3 gewonnen. Ein Liter Aral-Benzin kostete 40, ein halber Liter Bier 36 Reichspfennige.

1944 wurden wir - meine Mutter, mein Bruder und ich - evakuiert. Wir lebten nahe der belgischen Grenze in Schleiden in der Eifel. Die Front kam näher. Unser Vater war im Krieg. Wir lebten fast nur im Bunker. Eines Tages wurden wir mit einem Fuhrwerk abgeholt und stiegen in einen Bus um. Nach zirka 40 Kilometern wurde der Bus von Fliegern beschossen. Wären nicht deutsche Abwehrkräfte dagewesen, hätte kein Mensch überlebt.
Plötzlich waren vier Tiefflieger über uns und feuerten. Der Busfahrer sprang raus, die Türen klemmten, kein Mensch kam mehr aus dem Bus. Mein Bruder saß bei meiner Mutter auf dem rechten Bein und ich auf dem linken. Mutter zitterte wie Espenlaub, einige schrien. Die Bänke standen an den Seiten. Es waren Soldatenbusse. Mir gegenüber saß eine Cousine meiner Mutter, eine Schneiderin. Sie hatte mir aus einem alten Mantel ein Mäntelchen genäht, das ich trug. Ich drehte an den Knöpfen. Da wurde das Dach von einem Splitter aufgerissen; er traf die Frau in den Kopf. Sie stöhnte und starb neben uns.
Inständiges Beten



Alle Menschen beteten - ein so inständiges Beten habe ich nie mehr vernommen. Mutter schlug eine Decke um uns, warf uns beide unter die Bank und sich davor, die Splitter verfingen sich in der Decke, da sie durch das Dach und die Bank davor schon abgeschwächt waren. Die deutsche Flak schoss und schoss, bis schließlich ein Flieger angeschossen war und alle wegflogen. Nun mussten die Scheiben eingeschlagen werden, damit wir rausklettern konnten. Dann ging es mit einem Lastwagen weiter ins Emsland, nach Lorup. Hier wurden wir in eine Bäckerei nahe der Kirche bei einer Familie namens Simers einquartiert.
Wir Kinder hatten Läuse, der ganze Körper juckte. Abends fing Mutter sie uns aus den Haaren, überall saßen sie. Am Tag waren wir von unserer Mutter getrennt, sie musste Torf stechen, um für uns die nötige Nahrung zu bekommen.
Drei Monate waren wir in Lorup. Ich weiß noch, wie die Leute aus der Kölner Gegend vor Heimweh sangen: "Ich möcht\' ze Foß no Kölle jon", ein Lied von Willi Ostermann.
Meine Mutter war mal wieder auf dem Feld bei ihrer Arbeit, wir Geschwister waren in der Scheune. Wir durften nicht mit ihr gehen. Doch ich wusste, wo meine Mutter sich befand. In einem unbewachten Augenblick lief ich weg und alleine die Straße entlang. Weit im Hintergrund hörte ich das Getöse von Panzern. Ich rannte, was die Beine hergaben. Die Geräusche kamen immer näher und ich hatte Angst. Ein Militärfahrzeug hielt neben mir. Ein Mann mit einer mir unbekannten Uniform fing mich auf und nahm mich auf den Arm, aber ich verstand seine Sprache nicht. Ich zeigte Richtung Torffeld, und er brachte mich zu meiner Mutter. Der Mann entschuldigte sich höflich bei ihr und übergab mich in ihre Obhut. Mutter legte mich auf den warmen Torfboden, mein Herz pochte, ich weinte und konnte mich nicht mehr beruhigen.
Es waren die Amerikaner, die Einzug hielten.
Den zweiten Teil der Erinnerungen von Marlies Schröder lesen Sie in der kommenden Woche. Dann geht es um die Rückkehr in die Eifel.

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