Leserbrief Wir brauchen eine zeitgemäße Erinnerungskultur

Faschismus und Erinnerungskultur

Zu: „Ein Sieg mit bitterem Nachgeschmack“ (TV, 26. April) und „Nichts als nur die Erinnerung an mich“ (TV, 26. März):

In Frankreich ist Marine Le Pen, eine Galionsfigur der Neuen Rechten, nur knapp mit ihrem Vorhaben gescheitert, Staatspräsidentin zu werden. Wie ist es möglich, dass auch im 21. Jahrhundert eine Frau, die meines Erachtens die Abkehr von ihren faschistischen Wurzeln nur aus dem Grund vollzogen hat, um damit – wie es in der Neuen Rechten heißt – diskursfähig zu werden, in die Position gelangen kann, ein solches Amt zu ergreifen? Und die Neue Rechte in Deutschland verfügt gleich über mehrere Parteien, die ihr als parlamentarischer Waffenarm dienen können. Man muss also erneut darüber reflektieren, wie dem Faschismus entschieden entgegengetreten werden kann – und welchen Stellenwert eine zeitgemäße Erinnerungskultur dabei einnehmen muss.

Das Erinnern an eine historische Sache kann in zahlreichen Formen geschehen – durch das Errichten von Denkmälern, Gedenkveranstaltungen, Geschichtsunterricht. Eine besonders aktive Erinnerungskultur herrscht in Deutschland vor allem zum Nationalsozialismus vor. Aber es darf nicht beim bloßen Erinnern bleiben. Indem Menschen die Motive, Herrschaftstechniken und Rhetoriken der Vergangenheit kennenlernen, können sie eine Resilienz (psychische Widerstandskraft, Anm. der Redaktion) gegen faschistische Umtriebe der Gegenwart aufbauen. Eine Erinnerungskultur ist nur gut, wenn sie auch Vorgänge der Gegenwart begreifbar macht.

Eine Herausforderung ist, dass sich der Holocaust wahrscheinlich für immer der rationalen Vorstellungskraft der Menschen entziehen wird. Doch der Mensch greift auf Ereignisse auch über eine emotionale Ebene zu. Zeitzeugen können die Gefühlswelt der Lernenden ansprechen. Sie erreichen nicht nur das Gehirn, sondern auch das Herz der Zuhörenden.

Doch wie kann an den Holocaust erinnert werden, sobald die Zeitzeugen nicht mehr leben? Vonnöten wären neue Ansätze einer Erinnerungskultur, die einen emotionalen Zugang zum Thema ermöglichen, ohne die Rolle der Zeitzeugen in Gänze ausfüllen zu wollen oder den Part des intellektuellen Zugangs vollends zu ignorieren, die respektvoll mit dem Andenken an die Zeitzeugen umgeht, die Erlebnis- und Gedankenwelt der Lernenden anspricht und zeitgenössische Fragen mit zeitgenössischen Antworten versieht.  Eine Erinnerungskultur, die Schüler ebenso anspricht wie Erwachsene, müsste also das Interesse an Geschichte aufgreifen und ausbauen, indem sie einen Zugang findet, der dem des Zeitzeugen ähnelt. Hierbei spielen innovative Zugänge, insbesondere durch den Einsatz von modernen Medien, und das Einbegreifen der Lebenswelt von vor allem Jugendlichen eine große Rolle. 

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