Leserbrief Neben Kompetenz und Integrität zählt auch der Zeitgeist

Bundespräsidentenwahl

Zu den Artikeln „Breiter Zuspruch für Steinmeiers Wiederwahl“ (TV, 6. Januar) und „Steinmeier kann der Wahl gelassen entgegen-
blicken“ (TV, 30. Dezember) :

Wie ein Mantra klingt die Notwendigkeit der modernen Politik, schneller die patriarchalisch geprägte Gesellschaft zu überwinden, Migration als die Lösung vieler Probleme zu erkennen und alles dafür zu tun, einer de facto Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu gelangen. Insbesondere die Besetzung wichtiger Positionen ist hierbei bestenfalls Beispiel oder zumindest Symbol. Mittlerweile kommt das Aufbrechen alter Besetzungsmuster immer mehr in Vereinen, Unternehmen oder bei Führungskräften an. Aber kaum tut sich eine Gelegenheit für die Parteien auf, hier ein besonderes Zeichen zu setzen, ducken sie sich weg und begeben sich in die Lethargie des Gewohnten.

Die kaum in den Medien kommentierte Information, dass sich die Regierungsparteien und die größte Oppositionspartei darauf geeinigt haben, den amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier für eine zweite Amtszeit zu unterstützen, ärgert mich gleich doppelt. Zum einen, dass dieser aus meiner Sicht linientreue „alte weiße Mann“ wohl nur deshalb aufgestellt wird, da er, wie ich finde, nicht aneckt, so wunderbar diplomatisch ist und daher wohl kein Risiko für die Regierungsparteien darstellt.

Natürlich bin auch ich dafür, dass die Position nach Kompetenz und nicht nach Geschlecht oder Herkunft ausgelobt wird. Aber dass man sich nicht einmal Gedanken darüber macht, ob es vielleicht eine Person gibt, die neben Kompetenz und Integrität auch den Zeitgeist abbildet, ist doch sehr schade und vielleicht auch eine vertane Chance.

Warum sich dem auch noch die CDU anschließt, ist zudem wenig nachvollziehbar, aber vielleicht Indiz, dass diese Partei ihre neue Rolle noch nicht gefunden hat. Und dabei scheint mir der bisherige Bundespräsident keiner zu sein, der so in Erinnerung bleiben wird wie andere vor ihm.

Was mich aber zudem sehr nachdenklich stimmt, ist die Rolle der Medien bei dieser Kandidatur. Es hat den Anschein, dass sich viele nur noch am Tag nach der Wahl den letzten übriggebliebenen Lesern den erwarteten Ausgang verkünden möchten. Möchte man der Politik hier nicht einmal den Spiegel vorhalten? Hält man Steinmeier wirklich für die beste aller Möglichkeiten? Und wie wäre es darauf hinzuweisen, dass es auch mal eine Frau sein könnte, die dieses Amt würdevoll und vielleicht auch streitbar übernehmen könnte?

Aber vielleicht sehen unsere Journalisten auch keine kompetente Person auf der politischen Bühne, für die es sich lohnen würde, diesen Prozess zu hinterfragen. Oder sie sind einfach eingeschlafen. Dann wünsche ich eine geruh-
same Nacht.

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