Nur keine Zeit vergeuden

Obwohl sie ihr ganzes Leben lang äußerst sparsam war, gönnte sie sich von Zeit zu Zeit eine kleine Auszeit. Dieser bescheidene Luxus, gelegentlich mit der Bahn ins einige Kilometer entfernte Trier zu fahren, musste einfach sein.

Heute war es wieder einmal so weit. Die Kinder waren längst aus dem Haus, besuchten sie aber regelmäßig und genossen dabei ihre wunderbare Hausmannskost. Gestern hatte sie ihnen die beliebten Kartoffelpfannkuchen aufgetischt. Gut möglich, dass es auch am Ausbacken auf dem unverwüstlichen, holzbefeuerten Herd lag, dass sie nirgends so gut schmeckten wie bei ihr. Aber die "Bruzzelei" hinterließ natürlich auch ihre Spuren auf den Ringen der heißen Herdplatte. Und es brauchte immer Stunden, bis diese zum Reinigen heruntergekühlt war. "Morgen!" dachte sie. Aber dieses "Morgen" war ja schließlich heute, ihr Luxustag, und der hatte schließlich Vorrang vor hartnäckigen Fettspritzern.
Während sie sich ankleidete, waren ihre Gedanken bereits bei der nahen Bahnfahrt. Das tiefschwarze Dampfross würde bereits schnaufend auf sie warten. Die harten Holzbänke schmälerten den Genuss an der kleinen Reise nicht. Nur das Herunterschieben des schwer zu öffnenden Fensters und den unüberlegten, neugierigen Blick während der Fahrt zum qualmenden Ungetüm, das da mit enormer Kraft schwere, gut besetzte Waggons hinter sich herzog, den würde sie sich heute verkneifen. Hatte doch der stählerne Drache da vorne ihr beim letzten Mal hämisch fauchend Rußpartikel in die Augen gepustet. Auch durch das geschlossene Fenster würde sie den Reiz der dahingleitenden, bezaubernden Saar- und Mosellandschaft in vollen Zügen genießen.
Doch genug der Träumerei! Sie setzte ihr Hütchen auf und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Alles in Ordnung. Als sie zur Uhr schaute, musste sie erstaunt feststellen, dass ihr ausnahmsweise einmal nicht die Zeit davongelaufen war, wie so oft, sondern dass
s i e offensichtlich diesmal der Zeit vorausgeeilt war. Kaum zehn Minuten brauchte sie bis zum Bahnhof. Und dann? Sollte sie dort dann etwa nutzlos herumstehen bis zur Abfahrt? Nein, nein. Zeit zu vergeuden wiederstrebte ihr. Kurz entschlossen griff sie zu Schürze und Reinigungszeug und begann, ausgiebig und hingebungsvoll, den Herd damit zu bearbeiten. Das Hütchen störte dabei nicht. Die Hände? Dafür gab`s doch Wasser und Seife. Mehr erlaubte sie ihren Arbeitshänden ohnehin nicht.
Zufrieden mit sich und der sinnvoll genutzten Zeit schaute sie nun auf die Uhr- und konnte es kaum fassen. Lachen über ihr Missgeschick konnte sie jetzt allerdings noch nicht. Das kam erst später, als sie ihren Kindern davon erzählte und abschließend kurz und treffend selbst kommentierte: " Dn Zuch woar fott. Awwer dn Herd woar gebotzt!"

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