Leserbriefe Persönlich und individuell – immer noch die beste Diagnose

Zum Artikel „Der Arzt, der aus dem Bildschirm kommt“ (TV vom 8. Mai) schreibt Dr. med. Jürgen Trarbach:

Telemedizin kann die konkrete ärztliche Untersuchung kaum  ersetzen. Symptome und Symptomenkomplexe (Syndrome) haben ohne unmittelbare Anschauung des Patienten eine Vieldeutigkeit, ihre Zuordnung zu mehreren Krankheiten ist mit gleicher Wahrscheinlichkeit möglich. Erst die Anschauung, sprich Untersuchung des Patienten durch den Arzt, ermöglicht eine Unterscheidung ähnlicher Symptome und ihre spezifische Zuordnung. Logiker und Informatiker haben sich schon lange der Differentialdiagnose des „Bauchschmerzes“ angenommen. Es gibt kaum ein ­Symptom, das nach Art, Intensität, Dauer, Lokalisation oder Fortleitung so vieldeutig ist. Eine Eingabe aller Bedingungen in den Computer nivelliert aber die individuellen Erscheinungen und kann eine Genauigkeit vortäuschen, die nicht gegeben ist. Erst die persönliche Inaugenscheinnahme und ärztliche Gewichtung der vorhandenen Symptome als auch der „weichen“ Symptome ermöglicht eine hinreichend sichere Diagnose.

Die geschilderte Videodiagnostik einer Hautärztin zeigt, dass es in dieser ärztlichen Kategorie, wo es  bei dem diagnostischen Prozess explizit auf das Hautbild ankommt, visuell eine Zuordnung zu einer speziellen Krankheitseinheit bei entsprechender vielgeübten Praxis gelingt. Auch ist Ähnliches in einer Hausarztpraxis unter Umständen möglich, wenn man den Patienten jahrelang kennt. Dies ist aber keinesfalls in andere medizinische Bereiche übertragbar. Die moderne Medizin ist durch die Anwendung reduzierter, besonders verflachter technischer Modelle (Regelkreis) geprägt. Das hat die Illusion genährt, dass der Zugang zur Wirklichkeit durch einen formalisierbaren Informationsgehalt und nicht durch die Erfahrung des Handelnden erlangt wird. In einer weltumfassenden Diskriminierung von handlungsgeborener Erfahrung und Urteilskraft glaubt man das Bild der Welt in Modellen zu erfassen, wenn sie nur mit einer von der Mehrheit tolerierten Methode validiert sind. Digitalisierung der medizinischen Diagnostik muss also gut überlegt sein, bedeutet sie doch zunächst eine fortschreitende Formalisierung medizinischer Handlungen. Die Diagnose wird dem Modell angepasst, verliert aber gerade damit ihren wichtigen individuellen Bezug. Es resultieren übermittelte Symptome oder Befunde, medizinische Daten, die nicht mit der eigenen Erhebung oder Beurteilung verglichen werden können, damit nimmt die Diagnosequalität ab.

Dr. med. Jürgen Trarbach, Kleinich

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