Leserbrief Dauerhafte Friedensordnung nur ein Mythos

Ukraine-Krieg

Zum Leserbrief „Hat irgendein westlicher Politiker Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen Russlands genommen?“ (TV, 5. März):

Präsident Putin ist das Produkt einer Denkwelt, das wir im liberalen Westen kaum begreifen können. Der Glaube, dass der Liberalismus unweigerlich siegen wird, ist meiner Meinung nach unsere selbstverschuldete Illusion, die wir aufgeben müssen, wenn wir im Westen uns dauerhaft behaupten wollen.

Die plötzliche Kehrtwende von Bundeskanzler Scholz vor dem Bundestag, die in aller Welt Aufmerksamkeit erregt hat, zeigt uns, dass der Mythos einer dauerhaften Friedensordnung in Europa endgültig begraben ist. Putins zweite Invasion in die Ukraine wird von vielen Menschen als der letzte Wurf eines alternden Diktators gesehen. Aber seine totale Ablehnung der europäischen Ordnung, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zustande kam, ist im Licht der russischen Geschichte zu verstehen.

Wegen seiner schieren Größe und umfangreichen Bevölkerung versetzt Russland seit etlichen Jahrhunderten seine Nachbarn in Angst. Alle Nationen wenden zwar Gewalt in gewissen Situationen an, aber Russlands Geschichte von Konflikten an seinen Grenzen ist bemerkenswert: mit Schweden und der Türkei im 18. Jahrhundert, mit Polen wiederholt über 300 Jahre, mit Deutschland, im 20. und 21. Jahrhundert mit Finnland, Ungarn, der Tschechoslowakei, Afghanistan, Georgien, Syrien und zuletzt die Ukraine.

Das ist sicherlich das Russland, das es gilt zu verstehen und das die führenden Politiker des Westens bis jetzt nicht wahrhaben wollten. Sie haben zum Beispiel die Brutalität übersehen, mit der er sich seiner Kritiker entledigt. „Handel durch Wandel“ im Hinblick auf Russland (und auch China) wird in die Geschichte als eine irreführende Illusion eingehen. Schweden und Finnland hatten den Luxus der Neutralität, so lange die Friedensordnung in Europa andauerte; sie haben jetzt die Zeichen der Zeit erkannt und werden höchstwahrscheinlich Zuflucht in der Nato suchen wie auch vor ihnen die osteuropäischen Staaten, die 1990 ihre Freiheit von Russland wieder erlangten.

Russland isolieren bedeutet das Aufbrechen von Weltmärkten. Russische Banken aus dem Swift-System ausschließen, könnte Russland zwingen, andere regionale Systeme zu nutzen. Wenn wir weniger oder gar kein russisches Öl kaufen, werden andere es an unserer Stelle kaufen. Es könnte dann einige Nutznießer dieser Krise geben: geächtete Ölstaaten wie Venezuela, Saudi-Arabien oder Iran.

Es ist eine Binsenweisheit, dass kriegerische Auseinandersetzungen wie in anderen Weltteilen auch in Europa ausbrechen können.

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