Politik

Zur Berichterstattung über den Brexit und die Folgen für die Europäische Union diese Meinungen:

Das zentrale Argument der britischen EU-Gegner lautete: Befreiung von der schmutzigen EU-Organisation. Das klingt nach Kafka: 1. Gegnerschaft zu einem nicht legitimierten Machtapparat; 2. Ablehnung einer Monopolorganisation mit absolutem Gewaltanspruch; 3. Furcht vor einer Institution mit Steuerungsautorität nach eigenem Belieben. Das sind Vorwürfe, die auch EU-Befürworter heute zum Teil zugeben. Im Lager der britischen Politprominenz fehlt jedoch jeder wirkliche Ernst bei der Brexit-Diskussion. Ist es nicht seltsam, dass keine Hauptperson im britischen Lager heute die eigenen Worte aus der Vergangenheit noch wirklich ernst nimmt? Keiner ist bereit, den Worten Taten folgen zu lassen. Man wollte doch frei sein; plötzlich ist dieser Hauptpunkt fast unwichtig. Man weicht aus und entzieht sich dem Druck des Resultates aus dem Referendum. Man startet stattdessen ein undurchschaubares Katz-und-Maus-Spiel. Die Akteure werden zu Clowns, die sich im Spiel gefallen und an der Hauptaufgabe vorbeischleichen. Das gilt für alle vier Hauptpersonen: David Cameron, Boris Johnson, Theresa May und Michael Gove. Cameron hat jahrelang im EU-Rat gestänkert; zum Schluss war er im Lager der EU-Befürworter. Johnson, der Mann mit der Frisur wie Donald Trump, war früher EU-Befürworter; in den letzten Monaten wurde er zum extrem populären Führer der Brexit-Bewegung. May war eigentlich im Lager der Brexit-Gegner; heute will sie die UK-Interessen sehr hart gegenüber der EU verteidigen. Gove war Mitläufer im Johnson-Lager der EU-Gegner; im letzten Augenblick hat er wie Brutus den Freund ans Messer geliefert. Das sind die ekelhaften Charaktereigenschaften der britischen Hauptpersonen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Hauptpersonen auf der EU-Seite oft auch nicht sehr glaubwürdig sind. Das aktuelle Beispiel ist Jean-Claude Juncker mit seiner Luxleaks-Geschichte; er sollte sich überlegen, ob er wirklich eine gute Figur an der EU-Spitze ist. Alle diese unglaubwürdigen Wackel-Personen stehen charakterlich in eklatantem Gegensatz zu den Gründervätern der Euro-Idee. Diese Leute hatten einen klaren Standpunkt, ohne Wenn und Aber. Das beste Beispiel ist Charles de Gaulle. Er wusste, dass die Briten nicht in die EWG oder die EU passen. Während des Zweiten Weltkriegs war er nach England geflohen und hatte die Engländer sehr genau kennengelernt. Aufgrund dieser Erfahrung brachte er 1963 den Eintritt der Briten in die EWG definitiv zum Scheitern. Er traute dem UK einfach nicht über den Weg. Bis zu seinem Lebensende blieb de Gaulle bei dieser Meinung. Eine vergleichbare Grundhaltung ist bei britischen Politikern heute nicht beobachtbar; sie sind Leute, die ihre Fahne nach dem Winde ausrichten. Auch bei Politikern vom Kontinent ist diese Haltung oft zu beobachten. Allerdings hatten sie in jüngerer Zeit nicht die Chance, dies so offen zu demonstrieren wie die Briten. Prof. Dr. Hellmuth Milde, Trier Das größte Problem der EU ist weder der Brexit noch die Griechenland-, Banken-, Flüchtlingskrise, sondern der Vertrauensverlust seiner Bürger, der zwar auch aus diesen Krisen erwächst, letztendlich jedoch Folge einer jahrzehntelangen neoliberalen Wirtschafts-, Fiskal- und Finanzpolitik ist. Austeritätsmaxime und "Schwarze-Null-Religion" bedingen nicht nur in Deutschland stark steigende prekäre Arbeitsplätze, in den Rändern der EU führen sie zu einer hohen (Jugend-!)Arbeitslosigkeit, somit zur Spaltung der Bevölkerung in "sozial Schwache" (nein: sie sind nicht sozial schwach, sondern arm!) und in eine kleine "Elite" (zehn Prozent der reichsten Deutschen besitzen 62 Prozent des Gesamtvermögens). In Unkenntnis der wahren Ursachen dieser besch... Situation geraten viele Menschen am Rand unserer Gesellschaften in die Fänge nationalistischer und rechtspopulistischer Bewegungen. Hinzu kommen schwerwiegende strukturelle Schwächen der EU: Der Grundsatz der politischen Gleichheit - eine conditio sine qua non für eine funktionierende Demokratie - ist nicht realisiert. Zu erwähnen sind die politische Ungleichheit bei Wahlen zum Europaparlament samt dem komplizierten Schlüssel für die Sitzverteilung und ein Europäischer Rat, in dem die Nationalstaaten als maßgebliches Entscheidungsorgan ihr Süppchen kochen. Was ist aus dem Vertrauensverlust zu lernen? Weder ein "Weiter-So" (Merkel-Politik) noch eine populistische Renationalisierung löst Europas Probleme. Europa muss eine Republik werden, in der sich nicht Völker, sondern Bürger auf der Grundlage gemeinsamer Rechte zusammenfinden, anstatt von den Nationalstaaten gegeneinander ausgespielt zu werden. Eine Europäische Republik, die sich um das Allgemeingut kümmert, ist die Alternative zur EU, denn ein Binnenmarkt ohne regulierenden Staat, ohne gemeinsame Steuer- und Fiskalpolitik (siehe Luxleaks, Panama Papers) produziert eine sich immer weiter verschärfende soziale Krise, was die EU von innen zersetzt. Die Europäische Republik muss sich um das Große und Ganze kümmern (Außen-, Wirtschafts-, Verteidigungs-, Energie-, Klima-, Steuer-, Sozial- und auch Migrationspolitik), der Rest bliebe den Regionen vorbehalten, die die Träger dieser Europäischen Republik sein könnten. Eine Aufwertung der jeweiligen Region mit ihrer jeweiligen Sprache, Kultur und Küche könnte eine "Einheit in Vielheit" bilden. In einer zweiten Kammer - ähnlich dem US-Senat - könnten sie ihre Interessen vertreten. Das gemeinsame europäische Dach wäre das gleiche Recht aller Bürger. Die "res publica" muss bürgerliche Gleichheit - nicht nur Gleichheit für Marktakteure zulasten der Bürger - garantieren; das Primat über politische Entscheidung, das die EU dem Markt gegeben hat, muss einer demokratisch legitimierten Politik und damit dem Souverän zurückgegeben werden. Norbert Bogerts, Welschbillig

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