Gesundheit Solidarität ist keine Einbahnstraße

Zur Berichterstattung über die Corona-Pandemie schreibt Sigrun Spies-Werle:

Als vor 14 Monaten die Pandemie begann, von uns und unserem gewohnten Leben Besitz zu ergreifen, erstreckten sich die Einschränkungen und Entbehrungen auf die gesamte Bevölkerung:

Die „Senioren“: Alte und ältere Menschen mussten auf Sozialkontakte – familiäre und freundschaftliche! – verzichten. Gerade sie als die vulnerabelste Gruppe waren am stärksten einem hohen oder gar tödlichen Krankheitsrisiko ausgesetzt.

Das „Mittelalter“: Viele Erwerbstätige nahmen gravierende Einbußen in Beruf und Familie in Kauf: Homeoffice, Kurzarbeit, Homeschooling bei gleichzeitigem Verzicht auf soziale Kontakte aller Art: Eine schmerzliche und heftige Belastung für alle Beteiligten! „Systemrelevante Berufsgruppen“ arbeiteten oft über die eigene Belastbarkeit hinaus, um ihre Verantwortung für die Gesellschaft und den Schutz ihrer empfindlichsten Mitglieder zu übernehmen.

Die „Junioren“: Seit 14 (!) Monaten schlägt sich unsere junge Generation der Studierenden, Auszubildenden und Schüler mit den Auswirkungen der verschiedensten Lockdowns herum: Unsere Hochschulen und Universitäten haben weitgehend geschlossen, Studierende sitzen zu Hause vor dem PC in der „Fern-Lehre“, ohne Sozialkontakte! Auszubildende verlieren ihre Lehrverträge! Schulischer Unterricht findet statt unter schwierigsten Bedingungen mit FFP2-Masken bis zu acht Stunden am Stück, Homeschooling mit überforderten Eltern, Lehrern und W-Lan-Netzen, keine Treffen mit Gleichaltrigen nach Schulschluss, keine Geburtstagsfeier, kein Vereinssport, kein Chor, kein Musikverein …

Dabei sind die Junioren selbst – abgesehen von vorerkrankten Kindern und jungen Erwachsenen – keinesfalls die, welche im Falle einer Ansteckung schwer erkranken würden. Um ihrer selbst willen müssten sie das also nicht tun! Und dennoch tragen sie all dies fast selbstverständlich und tapfer mit! Warum!? Sie zeigen uns – dem Mittelalter und den Senioren – was echte Solidarität ist: Wissend, dass sie selbst als Überträger einen vulnerablen Menschen in Lebensgefahr bringen könnten, halten sie sich an all die Restriktionen. Aus Liebe und Solidarität zu Großeltern, Eltern, Verwandten, Bekannten verzichten sie seit langem auf all das, was Kinder und Jugendliche normalerweise selbstverständlich genießen dürfen! Und was tut diese Gesellschaft?! Kaum, dass knapp ein Drittel – natürlich aus der Gruppe Senioren + Mittelalter – seine Erstimpfung bekommen hat, wird unter dem Deckmäntelchen der „Grundrechte-Zurückgewinnung“ diskutiert, was geimpfte Personen demnächst „wieder alles dürfen sollten“: Urlaub, Kino, Schwimmbad, Kultur, feiern ...

Was empfinden wohl junge Menschen, die weder Konfirmation noch Berufs- oder Schulabschluss mit ihren Freunden feiern durften, wenn sie demnächst einem fröhlich feiernden Kegelclub in der Innenstadt begegnen? Keiner von uns hat sich die Impfung in irgendeiner Weise „verdient“: Es ist reine Glücksache und das Verdienst kluger Menschen, dass uns dieses Geschenk zuteil wird. Können wir uns mit den unseligen Lockerungsdiskussionen nicht einfach noch zwei Monate zurückhalten, bis unsere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auch ein Impfangebot bekommen? Solidarität ist keine Einbahnstraße!

Sigrun Spies-Werle, Lehrerin am Auguste-Viktoria-Gymnasium Trier

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