Thomas Geburtstag

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann, Papa Schlottmann, Amelie Schlottmann, Franziska Schlottmann, Thomas Schlottmann, Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann.

Wenn Thomas traurig war oder schlecht gelaunt; wenn ihm etwas Schlimmes geschah, so etwa wie neulich, als Ben zu David sagte, er könne Thomas nicht leiden, dauernd würde er mit Flecki angeben und mit seiner tollen großen Schwester, wenn also so etwas geschah, dann träumte Thomas sich weg. Er träumte dann zum Beispiel, er sei ein Prinz und alle müssten ihn bedienen, alle, außer vielleicht Mama. Denn Mama machte ja alles für ihn, aber ihn bedienen, nein, das sollte sie nicht.
Aber heute lag er im Bett und träumte sich nicht davon. Heute hatte er keinen Grund dazu, denn heute war sein Geburtstag. Lange schon war er wach und dachte darüber nach, was dieser Tag wohl bringen würde, welche Schätze wohl auf ihn warteten.
Im Haus spielten sich die seltsamsten Dinge ab: Alle schlichen auf leisen Sohlen umher, um ihn nur ja nicht zu wecken, dabei war er doch schon lange wach. Mama weckte nach und nach die anderen, sie trappelten auf der Treppe herum, er hörte, wie sich alle vor seiner Tür versammelten und flüsterten.
"Was sollen wir singen?" Ja, das war die Frage, die sie immer stellten. Es begann eine wilde Diskussion im Flüsterton, bei der jeder sein persönliches Lieblingslied vorstellte, "Viel Glück und viel Segen", "Wie schön, dass du geboren bist", und "Maria durch ein Dornwald ging". Das letzte war das Lieblingslied von Klein-Heinz, er sang es immer, das ganze Jahr über. Aber die anderen wollten alle nicht, es war doch noch Sommer, die Sonne schien so schön und das Besondere an dem Lied war ja, dass der Dornwald mitten im Winter zu blühen begann, und jetzt blühte alles doch sowieso.
Papa wurde die Diskutiererei zu viel, er stürmte in Thomas Zimmer. "Hoch soll er leben", tönte er und die anderen kamen hinterher. Mama trug in einer Hand Thomas Geburtstagskerze, auf dem anderen Arm Claudia, und Thomas war glücklich, dass der Tag jetzt endlich begann, egal, mit welchem Lied. Jeder hatte ein Geschenk dabei und das war ja das Schöne am Geburtstag, alle hatten sich Gedanken um ihn gemacht. Klein-Heinz trug ein Körbchen in seinen Händen, darin lagen Blumen, die er selbst gepflückt hatte, und in der Mitte lag die schönste von allen, eine rote Rose.
"'Maria durch ein Dornwald ging' ist viel schöner", murmelte er.
Und dann bekam Thomas sein Geschenk von Mama und Papa: Ein Schnitzmesser. Sein erstes Messer, sogar sein Name stand auf dem Griff. Wie lange schon hatte er sich ein solches Messer gewünscht, aber immer nur hatte Papa gesagt, "dafür bist du noch zu klein." Jetzt war er wohl nicht mehr zu klein und Thomas schaute in die Gesichter der anderen und spürte es selbst, jetzt war er schon bald groß. Bald würde er in die Schule gehen und jetzt hatte er ein Messer und damit würde er sich einen Speer schnitzen. Er sprang aus dem Bett.
"Heute habe ich Geburtstag", rief er und umarmte alle.
"Ich will auch Geburtstag haben", maulte Klein-Heinz. "Darf ich dann auch einmal dein Messer haben?"
"Nein, dafür bist du noch zu klein." Oh, wie gut es tat, diesen Satz zu sagen, vor allem, weil ja dieses Mal nicht er damit gemeint war, nein, er, Thomas, er war jetzt nicht mehr zu klein. Papa sagte immer, die Kindheit sei die schönste Zeit des Lebens, aber er hatte wohl vergessen, dass es nicht schön war, wenn man fast nichts durfte, wenn die Erwachsenen über einen bestimmten, wenn man noch zu klein für fast alles war.
Als Thomas am Mittag aus dem Kindergarten nach Hause kam, setzte er sich gleich auf die Terrasse und schälte die Rinde eines Astes. Klein-Heinz sah ihm dabei zu.
"Du kannst das aber gut", bewunderte er seinen großen Bruder.
Da hielt Thomas ihm das Messer hin und einen frischen Ast.
"Probier ruhig auch mal." Klein-Heinz strahlte. Er war geschickt mit seinen kleinen Händen, das wusste Thomas, niemand konnte so schöne Papiersterne ausschneiden, sogar seine Schuhe konnte Klein-Heinz schon selbst zubinden, obwohl er, Thomas, das immer noch nicht konnte. Aber mit einem Messer schneiden, jetzt sah Thomas es, dafür war sein Bruder wirklich noch zu klein. Zuerst ging die Rinde nicht ab und dann, als er es unbedingt noch einmal versuchen wollte, da schnitt er sich in den Finger. Wie vorher die Rinde an Thomas Ast schälte sich ein kleines Stück Haut von Klein-Heinz linkem Zeigefinger.
"Oh je", Thomas nahm sofort den Finger des Bruders in seinen Mund und leckte das Blut ab.
Klein-Heinz weinte nicht.
"Du bist aber ganz schön tapfer",
Klein-Heinz schaute ihn an.
"Wenn ich weine, kommt Mama, und dann sagt sie, dass ich zu klein bin zum Schnitzen." Thomas nickte. Das Problem kannte er.
Amelie hatte sich für den Mittag eine Schatzsuche mit vielen Rätseln ausgedacht, die die Geschwister von einem Hinweis zum nächsten führten. Dabei trafen sie Frau Rosenbaum.
"Na so was, was tut ihr da? Ist etwas Besonderes?"
Thomas strahlte sie an. Natürlich war heute etwas Besonderes, wieso wusste sie das nicht?
"Ich habe heute Geburtstag", rief Thomas, "und jetzt suchen wir einen Schatz".
Thomas schaute auf die alte Frau. Er mochte sie gerne, ihr Gesicht sah genauso aus wie das von Großmutter, seiner Kasperlefigur, es schien ihm, als hätte jemand dieses Gesicht geschnitzt. Und da dachte Thomas wieder an sein Messer. Vielleicht würde er auch einmal Gesichter schnitzen können, das wollte er. Die Augen von Frau Rosenbaum strahlten hell und blau und unternehmungslustig, sie leuchteten wie die Augen von Klein-Heinz, nur dunkler, trauriger:
"Weißt du, was komisch ist?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ich habe heute auch Geburtstag. Aber ich hatte es fast vergessen."
Jetzt staunte Thomas. Wie konnte man seinen Geburtstag vergessen, den zweitschönsten Tag im Jahr nach Weihnachten? "Das passiert mir nie", sagte er bestimmt.
Sie lachte: "Vielleicht. Vielleicht passiert es dir nie. Ich wünsche es dir." Und dann ging sie weiter, auf den Friedhof, um dort das Grab ihres Mannes zu besuchen.
"Na, Thomas, war es ein schöner Geburtstag?", fragte Mama ihn am Abend.
Er nickte. Und doch sah Mama, dass er besorgt aussah.
"Was ist los?" Sie klopfte auf ihre Oberschenkel und er setzte sich auf ihren Schoß. Sie war so weich und duftete so schön. Thomas seufzte.
"Was mache ich, Mama, wenn ich einmal meinen Geburtstag vergesse?"
Mama lachte: "Na, die Gefahr besteht bei dir nicht."
Dann merkte sie, dass ihm die Frage durchaus ernst war, ihm Kummer bereitete. Sie streichelte ihn.
"Wir werden dich dann daran erinnern. Du hast gar keine Chance, deinen Geburtstag zu vergessen. Wir sind ja da."
Er nickte und seufzte wieder, dieses Mal vor Erleichterung.
"Können wir nicht Frau Rosenbaum ab jetzt an ihren Geburtstag erinnern? Sie hat heute nämlich auch Geburtstag."
Mama nickte: "Das können wir gerne machen. Wenn sie sonst niemanden hat, der sie daran erinnert."
Thomas sprang von ihrem Schoß. "Sie hat niemanden. Komm, wir gehen jetzt."
Mama staunte. Er war ja schon im Schlafanzug und eigentlich sollten Klein-Heinz und er jetzt ins Bett, aber na gut.
"Ich brauche ein Geschenk!"
Er nahm einen Teller und legte zwei Stück Kuchen darauf, die waren noch übrig, und er wusste, sie waren lecker. Aber es fehlte noch etwas. Er schaute auf seinen Gabentisch, da lagen das Messer, und die Taschenlampe von Amelie und Franziska. Das war nichts für Frau Rosenbaum. Da fiel sein Blick auf das Körbchen von Klein-Heinz.
"Darf ich Frau Rosenbaum die schöne Rose schenken? Sie passt so gut zu ihr", fragte Thomas seinen kleinen Bruder. Der dachte nach und nickte zögerlich: "Aber nur, wenn wir 'Maria durch ein Dornwald ging' für sie singen."
"Das machen wir."
Mama gab Thomas eine kleine Glasschüssel, die füllte er mit Wasser und kleinen blauen Glassteinen, darauf setzte er die Rose.
"Das ist schön", Klein-Heinz nickte zufrieden, als er Thomas' Werk sah.
So gingen sie alle zusammen zum Haus von Frau Rosenbaum. 'Maria durch ein Dornwald ging' wollten Amelie und Franziska aber nicht singen. Deshalb sangen alle zuerst "Viel Glück und viel Segen" und Mama, Thomas und Klein-Heinz danach das Weihnachtslied. Versprochen ist versprochen, und Mama wusste, wenn sie es nicht gesungen hätten, hätte Klein-Heinz ihr das nie verziehen.
Ob Frau Rosenbaum sich freute? Das ist gar nicht zu beschreiben.

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