Thomas Schlottmann bekommt einen Schulranzen

In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte einmal Familie Schlottmann: Mama Schlottmann, Papa Schlottmann, Amelie Schlottmann, Franziska Schlottmann, Thomas Schlottmann, Klein-Heinz Schlottmann und das kleine Baby Claudia Schlottmann

Die Sommerferien waren fast zu Ende und bei den Schlottmanns hielt eine wehmütige Stimmung Einzug. Wie gerne hatten sie abends lange draußen gesessen und die Fledermäuse beobachtet, die lautlos über sie hinwegflatterten, wie oft hatten sie gegrillt, und wie schön war es, durch den Rasensprenger zu laufen, barfuß über die Wiese zu gehen und stundenlang einem Marienkäfer zuzuschauen, wie er über die eigene Hand krabbelte. Das alles würde bald vorbei sein und dann musste man wieder ein ganzes Jahr warten, um dieses Gefühl von Ewigkeit zu erleben.
"Aber macht doch nichts", sagte Amelie. "Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis der Wind um das Haus bläst, wir unsere Kerzen anzünden, und dann kommen doch bald schon der St. Martin, der Nikolaus und schließlich Weihnachten."
Ja, auch dieses Mal verfehlte das bloße Wort "Weihnachten" seinen Zauber nicht, es kribbelte im Bauch, man hatte plötzlich Tannenduft in der Nase, und ganz unwillkürlich nahm Thomas seine Flecki auf den Arm. Dass ein einziges Wort einen so froh machen konnte!
Aber Thomas war nicht nur traurig, dass der Sommer bald vorbei sein würde, nicht nur froh, dass es dann gar nicht mehr so lange bis Weihnachten sein würde, nein, er war auch aufgeregt. Nicht mehr lange dauerte es, bis er in die Schule kommen würde! Auf dem Schrank im Flur lag schon seit vielen Tagen die Schultüte, die er noch im Kindergarten gebastelt hatte, Mama würde sie mit lauter schönen Sachen füllen, und heute wollte Opa vorbeikommen, um mit ihm in die Stadt zu fahren, da sollte er sich seinen Schulranzen nämlich selbst aussuchen!
Thomas war sich nicht sicher, ob er sich auf die Schule freute, eigentlich tat er es, aber Franziska hatte gesagt, dass er sich nichts vormachen sollte.
"Ich sage dir, dann ist der Spaß vorbei."
Nachdenklich streichelte Thomas Flecki und dachte über den Spaß nach, der dann vorbei sein sollte.
Da kam Opa mit Caruso, seinem alten Mercedes, der immer so schön sang, man hörte die beiden schon von weitem.
"Na, ist mein ältester Enkelsohn zu einem Ausflug bereit?", rief Opa schon im Flur, und da freute Thomas sich und Flecki sprang ihm vom Schoß.
"Gell, Opa, ich darf mir aussuchen, was ich will?"
"Ja, na klar, bei so was Wichtigem, da lasse ich mich nicht lumpen."
Und da freute Thomas sich noch mehr: Bei allen Schnäppchen, die Opa sonst vorbeibrachte, hatte er wirklich noch keinen Schulranzen mitgebracht, den würde er sich also tatsächlich selbst aussuchen dürfen.
"Darf ich mit?" Franziska ging so gerne in die Stadt. Immer gab es dort Neues zu sehen, die vielen Menschen, die herumliefen, waren interessant, und sie wollte auch schauen, welchen Ranzen sich Thomas wohl aussuchen würde.
Opa zögerte: "Ich kaufe dir aber nichts", er kannte Franziska. Sie kaufte sich gerne etwas und von Schnäppchen hielt sie nicht so viel.
"Klar Opi", lachte sie und stupste ihren Opa in den Oberarm.
"Ich hab ja auch schon einen Ranzen. Aber vielleicht spendierst du uns noch ein Eis?"
In der Stadt führte Opa sie dann schnurstracks in ein Fachgeschäft und dort hing eine ganze Wand voller Schulranzen. Autos, Dinosaurier, Fußbälle, Fußballspieler, Einhörner, Blumen, Flugzeuge, Walt-Disney-Figuren, Motorräder, Schmetterlinge, Pferde, ach, was gab es nicht alles für verschiedene Motive! Thomas stand ratlos da und blickte auf die vielen Ranzen. Er sagte kein Wort.
"Siehst du, Schnäppchen sind immer besser. Da hat man nicht so viel Auswahl. Hier findet sich doch kein Mensch zurecht", moserte Opa zu Franziska.
Franziska nickte: "Ich habe da aber eine Idee."
Sie wickelte Thomas einen Schal um die Augen und drehte ihn einige Male um sich selbst: "Und jetzt streck mal deinen rechten Zeigefinger aus und zeige auf eine Stelle vor dir. Das wird dann dein Ranzen."
Thomas tat, wie sie sagte. "Und?"
Franziska zog den Schal von seinen Augen.
"Auf den da hast du gezeigt!"
Da staunte Thomas. Ein pinker Ranzen mit weißen Einhörnern!
"Nein, den will ich nicht!" Das Experiment war schiefgegangen - - oder doch nicht?
"Das ist gut, du weißt also, was du nicht willst." Opa nickte.
"Kann ich Ihnen helfen?", eine junge Frau stand plötzlich neben ihnen, sie lächelte freundlich, wohl eine Verkäuferin.
"Sie haben eindeutig zuviel Auswahl", brummte Opa.
"Ja, bei uns finden sie alles." Jetzt strahlte sie. "Alle aktuellen Modelle!"
Da schöpfte Opa Hoffnung: "Vielleicht haben sie noch alte Modelle?"
"Nein, natürlich nicht." Die Verkäuferin lächelte immer noch, aber doch etwas unsicherer: "Was schwebt dir denn vor, kleiner Mann?", wandte sie sich an Thomas.
Der zuckte nur mit den Schultern. "Die sehen alle gleich aus," brummte er.
Opa nickte. Er sah sich gerade die Preisschilder an und zuckte innerlich zusammen und die junge Verkäuferin wirkte ratlos.
"Frau Weber, vielleicht können sie hier helfen?"
Eine zweite Verkäuferin trat hinzu, sie war deutlich älter.
"Ja gerne, was gibt es?"
"Nun", Opa streckte seine Brust vor. "Ich will meinem Enkel einen Schulranzen kaufen. Die hier gefallen uns aber nicht. Sie haben viel Auswahl, aber irgendwie sehen doch alle gleich aus."
Frau Weber lachte: "Sie haben ja irgendwo recht, aber das ist es, was die Kunden wollen!"
"Und was ist, wenn die Kunden das nicht wollen?", fragte Opa.
"Dann gehe ich mal in den Keller." Frau Weber zwinkerte Opa zu.
Und Opa wuchs unter diesem Zwinkern bestimmt zwei Zentimeter in die Höhe: "Keller ist gut."
"Und was ist denn deine Lieblingsfarbe?", fragte Frau Weber Thomas.
"Grün, meistens, manchmal auch blau". Frau Weber nickte und ging.
Ja, Keller war gut: Frau Weber kam eine Weile später mit einem ganzen Arm voller Ranzen zu ihnen zurück. Einer war ganz dunkelblau mit leichter Beschädigung an der Kante, ein anderer in einem grell leuchtenden Wiesengrün, auf einem dritten tummelten sich Wale, immer die gleiche Formation von drei Walen in immer der gleichen Sprungposition, und schließlich hatte sie sogar noch einen ganz alten Schulranzen aus braunem Leder dabei.
"Na, der sieht ja aus wie der, den ich früher hatte", man sah sofort, dass Opa der Ranzen gefiel.
"Ja, er ist sehr schön, aber leider nicht so rückenschonend wie die anderen Modelle".
Da sah Opa die Verkäuferin lange an.
"Was soll man da noch sagen? Heute habe ich viel gelernt. Der Kunde ist König, aber nur, wenn er auch rückenschonend ist."
Frau Weber lachte.
"Vielleicht haben sie recht. Aber früher war nicht immer alles besser."
"Das stimmt leider, oder auch nicht. Ich habe keine Ahnung", Opa seufzte.
"Hast du dich entschieden, Thomas?"
Da nickte Thomas und zeigte auf den grasgrünen Ranzen: "Immer, wenn ich auf den schaue, erinnere ich mich an den Sommer."
"Das ist schön", sagte Frau Weber, "vielleicht macht dir die Schule dann auch Spaß."
"Möchten sie nicht noch ein Eis mit uns essen gehen?", fragte Opa beim Bezahlen. Natürlich war der Ranzen ein Schnäppchen. Frau Weber schüttelte den Kopf und lachte: "Nein, leider nicht, ich habe keine Pause mehr."
Als sie das Geschäft verließen, schon halb auf der Straße, wandte sich Opa noch einmal um und rief laut in den Laden hinein: "In zwei Jahren komme ich mit meinem anderen Enkel noch einmal vorbei. Da rufe ich vorher an, denn ich möchte nur von Frau Weber bedient werden, und dann können Sie vorher schon einmal in den Keller gehen."
Einen Augenblick wurde es ganz still im Geschäft, und alle Kunden und Verkäuferinnen starrten Opa an. Nur Frau Weber lachte.
Als sie vor der Tür standen, schob Franziska ihren Arm unter den von Opa.
"Manchmal bist du richtig peinlich, Opa, das finde ich super."
Und Thomas zog seinen neuen Schulranzen nicht einmal aus, als sie in der Eisdiele saßen und jeder von ihnen einen riesigen Eisbecher aß. "Ich hab doch gesagt, heute lass ich mich nicht lumpen."

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