Too big to fail

Politik

Zum Diesel-Skandal (mehrere Berichte im TV):
In der Bankenkrise haben wir es gesehen: Raubtierbanker gingen unvorstellbare Spekulationsrisiken ein und "verdienten" dabei märchenhaft. Der Steuerzahler musste für die Verluste haften: Zur Bankenrettung stellte allein die Bundesrepublik zig Milliarden Euro zur Verfügung - die Subventionierung der Automobilindustrie durch die Abwrackprämie nicht einberechnet. Obwohl einige "Spekulationsbanken" nach den kapitalistischen Regeln vom Markt hätten verschwinden müssen, wurden sie wegen ihrer Größe und Macht gerettet: too big to fail. Droht uns mit unserer Automobilindustrie dasselbe?
Zur Gewinnmaximierung wurde bei Dieselgate getäuscht, getrickst und gelogen, was das Zeug hält. Analysiert man die Rolle der Politik dabei, kommt man zu dem katastrophalen Ergebnis, dass sie zumindest der Kumpanei bezichtigt werden muss: In Brüssel setzte Merkel mehrfach Interessen der deutschen Automobilindustrie zulasten von Umweltvorschriften durch. Statt dass das Kraftfahrtbundesamt die Automobilindustrie effizient kontrolliert, wurde es - im Gegensatz zur Souveränität der US-Umweltbehörde EPA - zu ihrem Bettvorleger. Kein Wunder, denn das Amt ist dem Bundesverkehrsministerium unterstellt, und Minister Dobrindt - wie übrigens ähnlich die Ministerpräsidenten von Niedersachsen (Weil, SPD: VW), Bayern (Seehofer, CSU: BMW, Audi) und Baden-Württemberg (Kretschmann, Grüne: Daimler) tun alles, um "ihre" Autokonzerne zu schützen.
Dies ist allerdings auch kein Wunder, eher systemimmanent im neoliberalen Kapitalismus: Der Neoliberalismus verlangt massive Beschränkung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft: Deregulierung (z.B. Beseitigung von bzw. möglichst geringfügige Umweltvorschriften usw.), Privatisierung, Förderung der Angebotsseite z.B. durch Steuersenkungen, Abbau des Sozialstaats, Hinnahme ungleicher Vermögensverteilung etc. Da das Kapital sich im Wesentlichen auf der Angebotsseite befindet, kann es seine Interessen mit Hilfe des Lobbyismus um ein Vielfaches effizienter durchsetzen als z.B. finanziell minderbemittelte Nichtregierungsorganisationen, die Interessen der Allgemeinheit vertreten (Umwelt, Gesundheit etc.). Wäre das umgekehrt, hätte die Politik schon längst ein gesamtgesellschaftlich vernünftiges Mobilitätssystem in die Wege geleitet. In dessen Mittelpunkt stehen leistungsfähige, komfortable öffentliche Verkehrsmittel, sowohl für die Ballungsräume als auch für den Fernverkehr.
Statt in die von Autobauern und Politik gepriesenen autonomen Elektroautos zu investieren, wäre es durch Investitionen in die Digitalisierung des Verkehrssystems möglich, dass jeder zu jeder Zeit an jedem Ort ein Verkehrsmittel bestellen kann, mit dem er in kürzester Zeit auf der effizientesten Strecke an seinem Zielort ankommt. Der Trierer Geograf und Verkehrsforscher Heiner Monheim hat schon vor einiger Zeit das Konzept eines Bürgertickets erarbeitet, bei dem jeder Bürger 400 Euro für ein Jahresticket bezahlt (das könnte auch sozial gestaffelt werden) und dafür bundesweit mit allen Bahnen und Bussen fahren kann. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat dieses Konzept 2014 als machbar qualifiziert. Statt eines gigantischen Aufwandes an Geld, Ressourcen und Kompetenz für autonome E-Autos, die weniger Unfälle, Staus und Abgase produzieren sollen, würden mit dem Monheim-System diese Ziele schneller und preiswerter erreicht, ohne den Rattenschwanz an Problemen der E-Autos: Wer speichert deren Daten zu welchem Zweck? Hier ist Totalüberwachung möglich! Welche Chemikalien werden von den Lithium-Ionen-Batterien freigesetzt, wenn es doch zu einem Unfall kommt? Woher kommt der Strom? Wie schnell ist das durchdigitalisierte Auto veraltet? Muss ich wie beim Handy fast jedes Jahr ein neues kaufen? Die entscheidende Frage ist also: Wie lange noch sollen Autokonzerne möglichst viel Geld auf Kosten der Gesellschaft (Gesundheit, Umwelt) verdienen? Der Diesel-Gipfel von Politik und Automobilindustrie brachte vorige Woche nur Placebos hervor, was nicht wundert, da Umwelt- und Gesundheitsschützer nicht mit am Tisch saßen. In Zukunft müssen beide Seiten sich im Interesse aller das Ziel setzen, dass Autofirmen zu Mobilitätsunternehmen werden, die Konzepte erarbeiten, wie Autos eine, aber nicht die wichtigste Rolle im Verkehrsverbund spielen.
Norbert Bogerts
Welschbillig

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