Von Schmuddelkindern und Spießbürgern

Zum Artikel "Schwarz-gelbes Dilemma" (TV vom 20. Januar):

Wer die Hessenwahl verfolgt hat, musste immer wieder aus dem Lager von Union und FDP hören, dass die "bürgerlichen Parteien" die Wahl gewonnen haben. Ja, wo leben wir denn? Ich bin deutscher Staatsbürger, kenne meine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, konnte als Rheinland-Pfälzer nicht die "bürgerlichen Parteien" wählen, hätte es auch nicht getan. Bin ich also für diese Parteien kein Bürger unserer Gesellschaft? Bin ich etwa Verfassungsfeind? Gehöre ich nicht "dazu"? Will man mich ausgrenzen, bin ich ein unwürdiges Schmuddelkind, mit dem man am besten nicht spielt?

Vielleicht lässt sich eine Antwort auf meine Fragen am ehesten in der französischen Sprache finden. Hier gibt es nämlich zwei Begriffe für den Bürger: "le bourgeois" und "le citoyen". Die "bourgeois" waren die reichen Städter, auch wesentliche Träger der "bürgerlichen Revolution" von 1789, die die absolutistische Ständegesellschaft besiegten - allerdings ohne an die Interessen der zahlenmäßig dominierenden armen Landbevölkerung zu denken - und sich für individuelle und ökonomische Freiheiten einsetzten, was noch heute die beiden Standbeine der FDP sind, bei der allerdings seit 1982 das neoliberale eindeutig dominiert. Heute sind die "bourgeois" diejenigen, die nicht körperlich arbeiten, reichlich Geld verdienen und somit ein angenehmes Leben führen können.

Der "citoyen" ist das mit staatsbürgerlichen Pflichten und Rechten ausgestattete Mitglied einer demokratischen Gesellschaft, das nicht nur an seinen privaten Vorteil denkt, sondern sich für das Allgemeinwohl einsetzt und dabei auch über die Grenzen des Nationalstaates hinaus denkt, sich also mehr den demokratischen Grundsätzen (Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Freiheit, Gleichheit und Sozialstaatlichkeit) verpflichtet fühlt.

Während man den "citoyen" ins Deutsche am besten mit "Staatsbürger" übersetzt, entspricht der "bourgeois" in unserer Sprache eher dem "Spießbürger". Sprache ist verräterisch. Ich empfehle daher den Redakteuren des TV, in Zukunft von den "spießbürgerlichen Parteien" zu schreiben, wenn sie von Union und FDP berichten, denn auch als Nichtwähler dieser Parteien, aber Bürger der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, bin ich unserer Verfassung, unserem Gemeinwesen und den demokratischen Prinzipien zutiefst verbunden.

Norbert Bogerts, Welschbillig

wahlen

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort