Warnen, nicht provozieren

Politik

Zur Berichterstattung über die Türkei und zum Interview mit der Bundeskanzlerin (TV vom 17. März):

Kern der Aussagen von Angela Merkel ist, dass sie Drohungen von außen nicht für sinnvoll hält, sondern dafür plädiert, dass sich die türkischen Wähler ihre eigene Meinung bilden und frei entscheiden. Dabei sollte klar sein, wofür die EU steht. Diese Einschätzungen möchte ich unterstützen. Dabei ist ein kritischer Punkt, dass vielen Wahlberechtigten für ihr Votum die Loyalität zu momentanen Autoritäten Vorrang hat vor der Frage, was dem türkischen Staat und den Menschen in der Türkei zum Wohl dient. In den letzten Wochen mache ich im Gespräch mit langjährig in Deutschland lebenden Deutschen türkischer Abstammung die irritierende Erfahrung, dass viele ungeachtet der Vorgänge in der Türkei Erdogan und sein Referendum unterstützen - auch mit religiöser Begründung unter Berufung auf Koranverse. Umgekehrt erleben diese Deutschtürken, dass zahlreiche Menschen in ihrem Umfeld "böse" über Erdogans Reden und Verhalten urteilen, aber seine Verdienste und was Türken an ihm schätzen ausblenden. Alle Argumentationsversuche weisen sie ohne inhaltliche Diskussion als Verschwörungen zurück.
Es hat den Anschein, dass sie auch nach vielen Jahren des Lebens in Deutschland wichtige Grundprinzipien unserer Demokratie - Meinungs- und Pressefreiheit, die Unschuldsvermutung gegenüber Terrorverdächtigen, Anspruch (aufgrund von Gefahr im Verzug) Inhaftierter auf unverzüglichen, rechtsstaatlichen Prozess - nicht nachvollziehen. Ich stelle mir nach Jahren christlich-islamischer Gespräche die Frage: Wo haben wir aus falscher Toleranz schwierige Themen und Fragen zurückgestellt, was haben wir übersehen, wo waren wir einseitig?
Unsere freiheitlich-demokratischen Werte werden von uns und den Zuwanderern als selbstverständlich beansprucht. Im Spiegel augenblicklicher Ereignisse und Debatten und angesichts des Agierens von Populisten und Hasspredigern und Wahrheitsverdrehern wird deutlich: Jeder Bürger hat auch die Aufgabe, sich dieser Werte bewusst zu werden und diese zu vertreten, und gegebenenfalls als Christ oder Muslim zu seinen religiösen Überzeugungen zu stehen. Schon vor dem Putschversuch im Juli 2016 hat Präsident Erdogan gegen die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit und die noch gültige Verfassung deutlich verstoßen. Uns Deutsche erinnert das an die Anfänge von antidemokratischen Veränderungen nach 1930, die dann zu einer für uns heute kaum noch vorstellbar schlimmen Menschheitskatastrophe führten, aus der Deutschland sich ohne Hilfe von außen nicht mehr befreien konnte. Auch weitere Beispiele aus der Geschichte und unserer Gegenwart machen uns sehr skeptisch gegenüber Erdogans Politik und seinem Referendum. Ich will aus Solidarität mit unseren türkischen Freunden und Mitbürgern mahnen, aber nicht provozieren.

Rudi Kemmer, Mitglied bei der katholi- schen Friedensbewegung Pax Christi
Wittlich

Es ist im Grunde unfassbar: Ein Staat, der seit mehr als 100 Jahren mit einem anderen Staat befreundet ist, der traditionell gute Beziehungen wirtschaftlicher, kultureller, menschlicher Art zu diesem hatte, der Hunderttausende Gastarbeiter mit ihren Familien aufnahm und eingliederte, wird vom Oberhaupt dieses anderen Staates seit Monaten beschimpft und verleumdet, und das in einer Weise, wie man es privat nicht hinnehmen würde. Wie sollen denn nach der Volksabstimmung am 16. April diese Beleidigungen und Unterstellungen wieder gutgemacht werden können? Wie soll der Eindruck, dass jeder Türke in Deutschland, der für den Umbau der türkischen Verfassung zu einem Präsidialsystem stimmt, auch den Beleidigungen der deutschen Regierung seitens Herrn Erdogan zustimmt, verhindert oder vergessen werden? Es ist ein Jammer, dass auch Erdogan und seine Partei wie so viele Politiker weltweit im Kampf um die Stimmen der Mehrheit nicht beachtet haben: seine Mitmenschen, gleich welcher Farbe, Religion und politischer Meinung, zu achten, und immer als höchsten Wert den Frieden, im Inneren und nach außen, im Auge zu halten.
Franz Joseph Hassemer
Wallscheid

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