Gesellschaft Wie lange noch? Für immer.

Zum Leserbrief „Wie lange noch?“ (TV vom 11./12. Januar) schreiben Alois Peitz, Karl Josef Schleidweiler, Dr. Christoph Ritz, Egon Sommer, Dr. Gerrit Fischer, Peter Musti und Brigitte Bauer:

Wir sind in der Tat und zum Glück eine demokratische, freie Gesellschaft, sonst wäre ein Leserbrief wie der von Rudi Freyler zum Thema der Scham unserer Kanzlerin in Auschwitz nicht möglich. Ich bin empört, ich bin nicht allein empört – über soviel Schamlosigkeit eines Geschichtslehrers. Erstens diese beleidigenden Betitelungen der Kanzlerin und zweitens die Verhöhnung von Scham über die nationalsozialistischen Verbrechen.

Ich schäme mich als Deutscher für alle Gräueltaten an Menschen während der nationalsozialistischen Zeit.

Ich schäme mich genauso als Christ für alle Schandtaten, die im Namen des Christentums jemals verübt wurden.

Ich schäme mich für den Leserbrief von Rudi Freyler.

Alois Peitz (87), Trier

Dass die Kanzlerin „der wenigen“ medienwirksam dem „Schuld(en?)kulturwahn“ frönt, ist eine bemerkenswerte Feststellung eines Geschichtslehrers, der aus der Geschichte gelernt haben sollte, dass man aus ihr lernen könnte. Angesichts seiner verwendeten Begriffe, die immer mehr Nachahmer finden, scheint das nicht so.

Auch ich fühle mich nicht schuldig an der Millionen-Menschen-Massakrierung, versuche jedoch aus dem Geschehenen zu lernen und darauf hinzuweisen, dass sich buchhalterisch dokumentiertes Menschenvernichten nicht wiederholen darf. Dass andere Länder ähnliches verbrochen haben, rechtfertigt keine Verharmlosung. Das gilt auch für die, die heute von deutschem Boden per Drohne „versehentlich“ getötet werden. Die Scheinheiligkeit der Kanzlerin besteht eher darin, dass ihre Regierung dieses duldet.

Karl Josef Schleidweiler, Plein

Sehr geehrter Herr Freyler, zunächst einmal hat Frau Merkel von Scham gesprochen und nicht von Schuld. Man kann auch Scham empfinden für die Dinge, an denen man nicht schuld ist.

Ich fühle mich nicht schuldig am Völkermord an den Juden, aber ich schäme mich dafür, dass die Generation meiner Großeltern (ich bin Jahrgang 1959) nicht erkannt hat, welchen Verbrechern sie zujubelten – oder es nicht sehen wollten.

Meine Geschichtslehrer haben mir beigebracht, dass man aus den Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht worden sind, lernen sollte. Aus diesem Grunde ist es nötig, sich auch an diese Dinge zu erinnern. Der Genozid an den Juden war kein „Vogelschiss in der Geschichte Deutschlands“, wie ein gewisser Politiker es nannte. Hier wurden planmäßig und mit industriellen Methoden Menschen umgebracht. Unsere Verantwortung heute ist, nicht noch einmal Politikern nachzulaufen, die andere ausgrenzen, verunglimpfen oder von der „Reinheit deutschen Blutes“ fabulieren. In einem haben Sie vielleicht recht: Auch andere Nationen sollten Scham empfinden für ihre dunklen Flecken in der Geschichte. Aber wir Deutsche müssen erst einmal vor unseren eigenen Haustüre kehren, bevor wir auf andere zeigen.

Dr. Christoph Ritz, Traben-Trarbach

Der Leserbrief von Rudi Freyler hat mich an ein nachhaltiges Streitgespräch erinnert, das ich mit einem jüngeren Zeitgenossen vor einigen Jahren geführt habe. Es ging hierbei um die einfältige Feststellung, dass endlich Schluss sein muss mit dem Schuldvorwurf, wir – die Nachkriegsgeneration – könnten doch nicht verantwortlich gemacht werden für die Untaten des NS-Völkermordes. Werden wir denn verantwortlich gemacht? Der 75-jährige ehemalige Geschichtslehrer(!) aus Holsthum sieht das wohl so und drückt seine tiefste Verachtung für die „Dummdeutschen“ aus, die angeblich auf ewig Schuld auf sich geladen haben. Wie er selbst bekennt, hat er beim Studium von den grausamen Taten der Deutschen während der NS-Zeit erfahren und spricht nun von „Schuldkulturwahn“ und meint, dass endlich Schluss damit sein müsse, mit „gekrümmten Rücken“ durch die „Länder“ und durch die „Zeit“ zu schleichen. Dass er als Geschichtslehrer Erinnerungskultur und Schuld nicht auseinanderhalten will oder kann, ist fatal und spricht nicht für Nachdenkfähigkeit. Wie könnte er sonst darüber schwadronieren, unsere Kinder von der Schuld zu befreien, die unsere Eltern und Großeltern auf sich geladen haben?

Sein Verweis, dass russische, französische, englische, belgische, holländische Kinder nicht von ihren Vorfahren mit Schuld an deren Untaten beladen werden, ist wohl der Gipfel der Einfältigkeit. Was ist das für ein Verständnis, die Morde des einen mit den Morden der anderen zu rechtfertigen? Ein Tipp für Herrn Freyler: Zum Thema Erinnerungskultur bietet das Internet fast 900 000 Einträge.

Egon Sommer, Tawern

Rudi Freyler kritisiert die Betroffenheit und das Schamgefühl von Angela Merkel beim Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz. Er fragt sich, wie lange unsere Schüler und Jugendlichen mit einer sogenannten „Schuldkultur“ konfrontiert werden. Er fordert endlich einen Schlussstrich unter die deutsche Sühneverpflichtung.

Erschreckend ist, dass Herr Freyler von Beruf Geschichtslehrer war. Ihm sollten folgende Punkte geläufig sein, welche seit Jahren Gegenstand des öffentlichen Diskurses in der Frage der speziellen deutschen Verantwortung gegenüber unserer Geschichte ist.

Meine Elterngeneration, ich selbst, und die Generation meiner Kinder haben keine Schuld an den Gräueltaten der Nazis. Wir haben sie aufgrund unserer Alters nicht miterlebt. Viele von uns leben aber gerne und bewusst in einer Demokratie, besonders auch aufgrund unserer einzigartigen deutschen Geschichte. So kommt unserer Generation zwar keine persönliche Schuld, aber eine ganz bestimmte Verantwortung in der Welt zu. Verantwortung übernimmt der, der auch zu den dunklen Seiten der Geschichte seiner Vorfahren stehen kann.

Jetzt müssen wir Deutsche natürlich nicht allen auf der Welt mit unserem „Betroffenheitsvorsprung“ auf die Nerven gehen oder sie mit dem moralischen Zeigefinger belehren. Aber wir müssen auch in Zukunft dazu stehen, dass wir den amtlichen und industriellen Mord von über sechs  Millionen Menschen nie vergessen werden. Das Regime, das diesen Völkermord zynisch und selbstherrlich plante, wurde aus der Mitte des deutschen Volkes sehenden Auges gewählt. Nicht nur dieser Sachverhalt gibt der deutschen Nazi-Diktatur eine traurige Alleinstellung in der Weltgeschichte.

Eine Aufgabe der Geschichtslehrer  ist es, die Fehler und Errungenschaften eines Volkes erlebbar zu machen. Dies tun sie nicht, um die Jugendlichen in irgendeine Volksscham zu zwingen. Vielmehr wollen sie die jungen Bürger begleiten und ausbilden, um aus den Fehlern der Vergangenheit (und dem Guten!) zu lernen. So werden Jugendliche auch im Ausland ein Garant sein, dieselben Fehler nicht noch einmal zu begehen. Diese Art von Geschichtsbewusstsein wäre für jedes Land wünschenswert.

Herr Freyler gibt richtigerweise an, dass junge Leute in anderen Staaten weniger in die kulturgeschichtliche Verantwortung genommen werden. Er weist hier auf die brutale Kolonialgeschichte vieler Länder hin. Daher, so folgt er, müssten nun die deutschen Jugendlichen auch zu ihrem „Recht“ kommen, unberührt von der alten Geschichte zu bleiben.

Jedoch nur weil das Geschichtsbewusstsein anderer zu wünschen übrig lässt, müssen wir ja nicht denselben Missstand auch zu unserem Recht erheben. Wenn man die mutmaßliche Geschichtsvergessenheit der anderen anprangert, und gleichzeitig Geschichtsvergessenheit für uns als Recht einfordert, dann versäumt man es, selbstbewusste junge Deutsche auszubilden. Vielmehr projiziert man die eigene persönliche Kränkung auf die Schüler.

Den jungen Menschen empfehle ich einen längeren Aufenthalt im Ausland, bewusst als verantwortungsvolle Deutsche mit starkem Selbstbewusstsein, sodass sie auch die dunklen Seiten unserer Geschichte nicht verleugnen müssen. Sie können dann auch gut begründen, warum Extremismus abzulehnen ist und warum es sich noch heute lohnt, ein Demokrat zu sein.

Wie lange noch? Für immer. Nicht aus irgendeinem Schuldkult, sondern weil uns die Geschichte unseres Volkes mit Betroffenheit vor Augen geführt hat, dass wir alle zusammen unsere Zukunft gestalten müssen, und dass die staatlich organisierte Unmenschlichkeit in den Abgrund führt.

Dr. Gerrit Fischer, Trier

Noch sehr lange, Herr Freyler! Angesichts der Monstrosität und Grausamkeit der Verbrechen der Deutschen zwischen 1933 und 1945 kann niemand erwarten, dass nun endlich mal Schluss mit diesem „Schuldkulturwahn“ sein muss! Niemand, auch Sie und ich nicht, oder unsere Kinder und Enkelkinder, sind mit oder durch diese Taten schuldbeladen oder gar verantwortlich! Aber diese Grausamkeiten sind von unseren Vorfahren getan worden, und die Nachfahren haben die Pflicht, im Sinne von „niemals wieder“ die Erinnerung an diese Taten wachzuhalten! Unsere Vorfahren haben es geschafft, im Sinne eines Geschichtsbewusstsein der Völker, die „Hunnen“ als Schrecken abzulösen! Nicht mehr die Hunnen, sondern „die Nazis“ sind das Synonym für den Schrecken und die Grausamkeit geworden.

Peter Musti, Konz

Sehr geehrter Herr Freyler, wie soll die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Auschwitz sich denn verhalten, außer ihrem Empfinden von tiefer Scham Ausdruck zu verleihen? Schlagen Sie vor, dass Frau Merkel Verachtung für die Taten der Deutschen formuliert? Scham, Verachtung, Entsetzen, Schuld, in Auschwitz muss ein Besucher sich vielen Gefühlen und Gedanken aussetzen.

Es wurde schon gefordert, dass deutsche Politiker, deutsche Reisegruppen, deutsche Schulklassen gar nicht nach Auschwitz oder anderen Gedenkstätten fahren sollten, weil endlich Schluss sein muss mit dem „Schuldkulturwahn“. Aber die Gedenkstätten sind ja vorhanden, mehr noch, woran sie erinnern, ist ja genau dort geschehen. Soll die polnische Regierung die Gedenkstätte Auschwitz schließen, abreißen, plattmachen? Das wird die Erinnerung der Opfer und ihrer Nachkommen nicht auslöschen, selbst wenn die Täter es sich wünschen.

Herr Freyler, Sie selbst sind kein Täter, ebensowenig wie ich, die beim Kriegsende zwei Jahre alt war. Ebensowenig wie unsere Kinder und Enkel und die, die später kommen werden. Ebensowenig wie ein heute lebender Spanier für die Verbrechen der Eroberer in Mittel- und Südamerika im Namen der spanischen Krone verantwortlich ist. Ebensowenig wie ein heutiger Mensch in Virginia für Sklavenmärkte verantwortlich ist und ein Belgier für Verbrechen im Kongo und ...

Was die Täter angerichtet haben, verursacht immer noch Leiden bei den Nachkommen der Opfer, psychische Leiden, Veränderungen ihrer Grenzen, Zerstörungen ihrer Kulturgüter und Neuaufbau mit unwiederbringlichen Verlusten des Alten.

Wir Deutschen werden im Ausland bewundert für unsere Kultur, dabei kann ich gar keine Noten lesen, ich habe noch kein Gedicht geschrieben, ich habe kein Bild gemalt und nichts erfunden. Ich nehme Respekt entgegen, für den ich nichts geleistet habe, ich muss auch Anschuldigungen hinnehmen für Verbrechen, die ich nicht begangen habe.

Brigitte Bauer, Kenn

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