Politik Zerzaust, verspottet – aber erfolgreich

Zur Berichterstattung über den Brexit-Handelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU schreibt Peter Oldfield:

Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist gewissermaßen ein Schlag gegen die Vorstellungen gewesen, die wir von unserer Union hegen, als ein Staatenverbund, dessen Entwicklung bis jetzt nur eine Richtung kannte und kennen sollte.

Der Austritt ist auch eine Blamage, insofern als Großbritannien, das unsere Werte von Demokratie und Rechtstaat hochhält, austritt, während Polen und Ungarn, die diese Werte fortlaufend untergraben, uns in der EU erhalten bleiben. Er bedeutet außerdem einen deutlichen Verlust, da Großbritannien für die EU ein wichtiger militärischer Partner ist sowie die sechstgrößte (bis 2019) Weltwirtschaft und bis vor kurzem zweitgrößte in der EU.

Die Verhandlungen über ein zukünftiges Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU haben bis kurz vor Ende der Übergangsphase gedauert, da beide Seiten ihre Interessen verteidigten und viel zu verlieren hatten. Das oft gehörte Mantra, dass Großbritannien mehr durch einen ungeregelten Austritt zu verlieren habe, da der Handel mit der EU einen größeren Anteil an der britischen Wirtschaft hat als umgekehrt, ist zwar mathematisch richtig, vergisst aber die Tatsache, dass die EU 2019 einen Handelsüberschuss mit Großbritannien von fast 100 Milliarden Euro gehabt hat.

Der Zugang zum britischen Markt zu günstigen Bedingungen bleibt wichtig für die EU und ist dadurch gesichert, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt, während für Großbritannien die EU als Exportmarkt seit zwanzig Jahren ständig an Bedeutung verliert. Bis heute hat Großbritannien 50 Handelsabkommen mit größeren und kleineren Partnern in verschiedenen Weltteilen abgeschlossen und rechnet damit, dass weitere dazu kommen.

Wenn man über Premierminister Johnson spricht, muss man selbstverständlich seine zerzausten Haare, sein unseriöses Gehabe sowie sein mittelmäßiges Management der Corona-Krise erwähnen. Durch seinen Wahlsieg vor einem Jahr aber hat er die Blockade im britischen Parlament aufgelöst, die für soviel Spott hierzulande gesorgt hat, und sein Land aus dem politischen Stillstand geführt. Mit dem Austrittsabkommen und der jetzigen Einigung mit der EU über die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen hat er der in Großbritanniens jahrzehntelang währenden „Europafrage“ eine Lösung herbeigeführt, wogegen vier seiner Konservativen Vorgänger – Thatcher, Major, Cameron und May – alle wegen Europa gestürzt sind.

Die Kontinentaleuropäer haben im Laufe ihrer Geschichte Kriege, Diktaturen, ethnische Säuberungen, Verschiebungen ihrer Grenzen erlebt und haben in der EU eine Lösung für sich gefunden. Den Briten fehlen diese Erfahrungen, so dass sie instinktiv eine Erzählung ablehnen, die besagt, dass die Aufgabe der nationalen Souveranität und Institutionen ein angemessener Preis für Frieden und Wohlstand sei. Sie teilen auch nicht das Misstrauen hierzulande gegenüber eine Beteiligung des Volkes an Entscheidungsprozessen. Zur Erinnerung: 1975 wurde der Verbleib in der EU eben durch ein Referendum bestätigt.

Peter Oldfield, Mertesdorf

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