"Liebe": Haneke prüft Zuschauer auf Herz und Nieren

Wer Stanley Kubrick, dem Regisseur von Klassikern wie „2001: Odyssee im Weltraum“ oder „Uhrwerk Orange“, Gefühlskälte und Distanz zu seinen Figuren vorwirft, hat noch nie einen Film des Österreichers Michael Haneke gesehen. Der 70-Jährige ist ein Meister darin, in plüschigen Kinosesseln Unbehagen zu verbreiten.

 Jean-Louis Trintignant und Michael Haneke beim Filmfestival in Cannes. Foto: Stéphane Reix

Jean-Louis Trintignant und Michael Haneke beim Filmfestival in Cannes. Foto: Stéphane Reix

Hanekes Filme sind Versuchsanordnungen menschlicher Grenzerfahrung. Darin geraten Familien in die Fänge von Sadisten ("Funny Games"), zerstören sich Frauen selbst ("Die Klavierspielerin") oder gehen Kinder am sittenstrengen Protestantismus zugrunde ("Das weiße Band"). Seine Meisterschaft hat Haneke viele Auszeichnungen eingebracht. Bereits zweimal gewann er die Goldene Palme - ein Kunststück, das vor ihm nur sechs Regisseuren gelang. Die zweite gab's für "Liebe" (2012). Der Film erzählt die Geschichte des pensionierten Pariser Ehepaars Georges (Jean-Louis Trintignant) und Anne (Emmanuelle Riva), deren Beziehung auf die Probe gestellt wird, nachdem Anne einen Schlaganfall erleidet. Mit gewohnt starren Einstellungen und nur spärlichen Kamerabewegungen wahrt der Film Distanz - und geht doch unglaublich nah. Riva spielt die Stadien ihrer Erkrankung so glaubwürdig, dass dem Publikum der Atem stockt. Trintignant gibt Georges mit stoischer Ruhe - egal, ob er seiner Frau etwas vorsingt oder ihr die Windeln wechselt. Kino ist bei Haneke auch immer moralische Anstalt mit erzieherischem Impetus. Wie Hanekes vorangegangene Werke geht auch "Liebe" an die Nieren, wie kein anderes trifft es mitten ins Herz.

Falk Straub

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