Sind selbst geschrieben Zeugnisse wirklich besser?

Zeugnisschreiben ist Chefsache. Eigentlich. Doch wussten Sie, dass sich in den Unternehmensspitzen die Legastheniker ballen? 35 Prozent der amerikanischen Firmeninhaber leiden unter Lese- und Rechtschreibschwäche, eine Quote, die um das 3,5-fache über dem Anteil der Gesamtbevölkerung liegt.

 TV-Kolumnist Martin Wehrle.

TV-Kolumnist Martin Wehrle.

Foto: privat

Als jemand, der fast täglich Zeugnisse liest, kann ich Ihnen versichern: Die deutschen Chefs sitzen kaum fester im Sattel der Rechtschreibung. Beim Formulieren hapert es noch mehr.

Warum sollten Sie nicht selbst zur Feder greifen und sich ein tolles Zeugnis schreiben? Diese Idee ist gut, aber auch riskant: Wer die Zeugnissprache nicht beherrscht, riskiert Kopf und Karriere. Ein frei formuliertes Zeugnis kann von Personalern als unprofessionell empfunden, als Selbstbeweihräucherung durchschaut werden. Nehmen wir an, Sie sprechen nicht von "vollster Zufriedenheit", sondern davon, dass die Firma "von der Arbeitsleistung angetan war". Gemeint ist dasselbe. Aber die Wortwahl abseits der Fachsprache lässt den Personaler fremdeln. Einem Seemann käme es ja auch merkwürdig vor, wenn er auf hoher See plötzlich "rechte Bootsseite" hörte - und nicht "Steuerbord", wie vertraut.

Weiteres Risiko: Sofern sich in Ihrer Bewerbungsmappe mehrere Zeugnisse ohne Standardformulierungen finden, womöglich im selben Stil formuliert, sind Sie sofort als Autor enttarnt. Das wirft Fragen auf: Warum mussten Sie Ihr Zeugnis selbst schreiben? Haben Ihre Vorgesetzten so schlecht über Sie gedacht?
Wenn Sie Ihr Zeugnis selbst schreiben: Spicken Sie in Ratgebern und auf Internetseiten mit einschlägigen Formulierungen (siehe Quelle)!

Wenn Sie Ihren Chef schreiben lassen: Machen Sie ihm eine Vorgabe an Punkten, die Sie gerne in dem Zeugnis erwähnt hätten! Welche Projekte, welche Aufgaben, welche Erfolge sind Ihnen gelungen? Denken Sie an Zahlen! Für wie viele Mitarbeiter waren Sie verantwortlich? Wie hoch war Ihr Etat? Um wie viel Prozent konnten Sie den Umsatz, die Kundenzufriedenheit oder was auch immer steigern?

Diese Fakten sind oft noch interessanter als die kreativen, subjektiven, winkelschiefen Bewertungen. Und schließlich: Lesen Sie das Zeugnis mit Argusaugen und lassen Sie alle Rechtschreibfehler austilgen! Denn diese fielen auf Sie zurück - es sei denn, der neue Boss gehört ebenfalls zur großen Familie der Chef-Legastheniker.
arbeitszeugnis-info.de

Unser Kolumnist Martin Wehrle (geboren 1970) gehört zu den erfolgreichsten Karriereberatern in Deutschland. Sein aktuelles Buch: "Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus" (Econ).

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