Stuttgart 21, das grüne Dilemma

Noch tiefer als die Grünen in Baden-Württemberg kann man eigentlich nicht mehr in der Tinte sitzen. Das umstrittenste Großprojekt der Republik, der Tiefbahnhof in Stuttgart, hat den Stresstest bestanden.

Schweizer Gutachter, die ausgerechnet von den Gegnern des unterirdischen Bahnhofs favorisiert und einvernehmlich mit der Prüfung beauftragt worden waren, haben seine Leistungsfähigkeit, wenn auch mit Einschränkungen, zertifiziert. Man erinnere sich: Die Grünen waren die einzige Partei, die den bis heute anhaltenden Protest im vielstimmigen Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 maßgeblich mit angeschoben haben. Sie wurden im März an die Regierungsspitze gewählt, weil sie mit dem Vorsatz angetreten waren, den Bahnhof in seiner ursprünglich geplanten Form zu verhindern. Auf ihr Bestreben wurde mit Heiner Geißler ein Schlichter berufen, der den von allen Seiten gewünschten Stresstest angeregt hatte. Gegner und Befürworter an einen Tisch zu bringen, war ein ungewöhnliches demokratisches Experiment. Jetzt hat sich das Aktionsbündnis aus dem Prozess ausgeklinkt und sich dabei selber die Möglichkeit genommen, den weiteren Fortgang zu beeinflussen und mitzugestalten. Der Versuch zu mehr Bürgerbeteiligung, der zwar reichlich spät, aber immerhin doch kam, ist damit gescheitert. Damit wird klar, dass es zumindest einem Teil der Gegner nach dem Motto: Es gibt nur eine Wahrheit - und das ist meine eigene, nie wirklich um ein demokratisches Verfahren ging. Das dürfte die lang anhaltende Sympathie der Bevölkerung gegenüber den Widerständlern empfindlich schmälern. Die Grünen aber - und das ist plötzlich ihr Dilemma - sind Regierungspartei und können sich nicht leichtfertig über verbindliche Absprachen hinwegsetzen, wenn ihnen das Urteil der Gutachter nicht passt. Es dürfte allenfalls noch darum gehen, - jetzt ohne das Bündnis - Kompromisse auszuhandeln, da zu modifizieren, wo im Faktencheck Argumente der Prüfer nicht standhalten. Dass die im Herbst geplante Volksabstimmung doch noch eine Wende bringt, daran zweifelt selbst der erste grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Sein Vorstoß, die Landesverfassung zu ändern, um die Hürde für Volksabstimmungen abzusenken, war zuvor an der dazu erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Landtag gescheitert. Es bleibt also beim Quorum, einer Mindestwahlbeteiligung von 33,33 statt der von Grün-Rot angestrebten 20 Prozent. Und damit sinken die Chancen, das umstrittene Vorhaben auf diesem Weg zu beerdigen, rapide. Andererseits wäre es ein Stück aus Absurdistan, wenn der Tiefbahnhof ausgerechnet von seinen schärfsten Kritikern realisiert werden müsste. Alle Glaubwürdigkeit wäre dahin, Kretschmann und Co. würden sich dem Spott der Nation aussetzen. Der Streit um Stuttgart 21 ist der Fahrstuhl, der die Grünen in Baden-Württemberg an die Regierungsspitze geführt hat. Derselbe Fahrstuhl könnte sie auch wieder ins politische Parterre befördern. Isabell Funk, Chefredakteurin

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