Nach Babytod in Spangdahlem: Wie Ärzte Kindmisshandlung erkennen - Experte im Interview

Trier · Nach dem Tod eines kleinen amerikanischen Jungen stehen auch Ärzte aus Wittlich in der Kritik. Wie Mediziner frühzeitig Formen von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung erkennen können, darüber sprach TV-Redakteurin Nina Ebner mit Dr. Hans Ulrich Peltner, Chefarzt der Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin am St. Bernward Krankenhaus in Hildesheim.

Herr Dr. Peltner, Sie bieten Fortbildungen zum Thema "Kindeswohl und Kinderschutz" für Ärzte an, referieren etwa am Mittwoch am Trierer Mutterhaus. Was raten Sie Ihren Kollegen dort?

Dr. Peltner: Als Allererstes sage ich ihnen, dass sie das Undenkbare denken müssen - auch wenn sie nette Eltern vor sich haben, die mit dem Kind liebevoll umgehen. Denn man sieht es Eltern nicht unbedingt an, ob sie ihr Kind misshandeln.

Wann werden Sie denn in Ihrem Arbeitsalltag hellhörig, wann fangen Sie an, das - wie Sie sagen - Undenkbare zu denken?

Dr. Peltner: Es gibt für Kinder, abhängig vom Alter, typische und untypische Verletzungen. Wenn etwa ein kleiner Säugling Frakturen an den Füßen oder Unterschenkeln hat und die Eltern behaupten, er sei im Gitterbett hängengeblieben, kann das einfach nicht stimmen. Wenn Babys Frakturen haben, sollte man als Arzt immer daran denken, dass sie misshandelt sein könnten - Brüche kann sich ein Säugling gar nicht von selbst zuziehen. Das sieht bei älteren Kindern natürlich anders aus: Die toben herum, fallen und können sich dann auch mal etwas brechen. Wenn allerdings ein Vierjähriger blaue Flecken an der Schulter, am Rücken oder am Po hat, sollte ich als Arzt ebenfalls hellhörig werden.

Im Fall des Spangdahlemer Säuglings wurden die Frakturen in der Wittlicher Klinik ja gar nicht erst bemerkt: Wie schwierig ist es für einen Arzt, Knochenbrüche bei Babys, die sich ja noch nicht verständlich machen können, überhaupt festzustellen?

Dr. Peltner: Es ist eigentlich nicht schwer. Die Kinder haben Schmerzen, sie schreien. Das bekommt man als Arzt mit. Und gerade bei der Kombination Schreikinder und junge Eltern ist das Risiko, dass man ein misshandeltes Kind vor sich hat, deutlich höher.

Sind Ärzte Ihrer Erfahrung nach zu vorsichtig, während einer Untersuchung eine Kindesmisshandlung in Erwägung zu ziehen?

Dr. Peltner: Es ist natürlich so, dass wir niemanden stigmatisieren wollen. Wenn an einem einmal der Verdacht anhaftet, man habe sein Kind misshandelt, wird man diesen nie wieder los. Deswegen ist es umso wichtiger, dass sich Ärzte Netzwerke aufbauen. In Hildesheim haben wir beispielsweise eine Kooperation mit dem Institut für Rechtsmedizin in Hannover: Ärzte haben die Möglichkeit, anonym Fotos von Verletzungen auf einen geschützten Server hochzuladen, auf den die Rechtsmediziner dann Zugriff haben. Diese können oft besser beurteilen, ob es sich bei der Verletzung um eine Misshandlung handelt. Solche Netzwerke und Angebote müssen ausgeweitet werden.

Dr. Hans Ulrich Peltner (59) ist Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und leitet als Chefarzt die gleichnamige Klinik im St. Bernward Krankenhaus in Hildesheim.

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